Graf Öderland / Wir sind das Volk

Premierenkritik Volker Lösch bringt die Moritat von Max Frisch mit einem Bürgerchor und Pegida-Stimmen auf die Bühne des Dresdner Staatsschauspiels

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Umso gespannter konnte man jetzt sein, wie Volker Lösch mittels der Chöre die Moritat Graf Öderland von Max Frisch auf die auf dem benachbarten Theaterplatz vor der Semperoper aktuell stattfindenden Pegida-Demonstrationen jener Bürgerbewegung, die sich mittels patriotischer und fremdenfeindlicher Parolen der nach ihrer Meinung drohenden Islamisierung des Abendlandes entgegenstemmen will und sich dabei auch Losungen der friedlichen Revolution von 1989 bedient, zuschneiden würde. Lösch nennt seine Inszenierung dann auch folgerichtig Graf Öderland / Wir sind das Volk.

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Frischs Öderland besitzt eine durchaus wechselhafte Aufführungsgeschichte. Zweimal hat der Schweizer Schriftsteller und Dramatiker das Stück umgearbeitet. Ein großer Erfolg war ihm dennoch nie beschieden. Schriftstellerkollege Friedrich Dürrenmatt kritisierte vor allem, dass Frischs Theaterstück im Privaten steckenbleibe und somit keine Allgemeingültigkeit besitze. Und in der Tat wundert sich der Leser schon, wie dem aus Langeweile aus seinem Alltagsleben ausgebrochenen Staatsanwalt, der als mythische Figur Graf Öderland mit der Axt in der Hand eine Schar Aufständische um sich ringt, die Macht zufällt, ohne dass er eine konkrete Vision von ihr hätte. Max Frisch wilderte für seinen Grafen tief in der deutschen Dramengeschichte. Es gibt Parallelen zu Büchners Leonce und Lena, den anarchischen Räubern von Schiller, wie auch zu Brechts Faschismusparabel vom Aufhaltsamen Aufstieg des Arturo Ui. Selbst das Freiheitssymbol des Schiffs, mit dem der Graf der Ödnis seines Lebens nach Santorin zu entrinnen versucht, besitzt in der finsteren Moritat vom Grafen Öderland Ähnlichkeit zu Brechts Seeräuberjenny. Letztendlich aber kommt dem Staatsanwalt am Ende sein Ausbruchsversuch nur wie ein Traum vor.

Kein Traum dagegen sind die wöchentlichen Pegida-Demonstrationen, auf denen sich die selbsternannten Unzufriedenen mit ungezügelt fremdenfeindlichen Hasstiraden Gehör verschaffen wollen. Und wie in Frischs Stück bestehen die Stimmen des Volkes aus einem diffusen Brei von Wünschen und Meinungen. Bleibt bei Frisch aber die breite Masse aus Köhlern, Bauern und kleinen Angestellten noch weitestgehend hinter ihrem Anführer zurück, so bekommen in Volker Löschs Pegida-Aneignung die „Enttäuschten und Verbitterten“ (lt. Soziologe Heinz Bude) mit ihren lauten Forderungen klare Konturen. Das Team um Lösch hat diesem sogenannten Volk, das u.a. von einem übergestülpten System und Abstiegsängsten nach der Wende klagt, genau aufs Maul geschaut und dem breitgefächerten Chor aus Dresdner Bürgern seine z.T. erschütternden Recherchetexte in den Mund gelegt. Mit Fahnen, Fackeln und schließlich Äxten bewaffnet treten sie immer wieder aus dem Dunkel der Bühne, sitzen auf Holzkohlemeilern und an Lagerfeuern.

Diesem defizitären Demokratieverständnis, gespeist aus Vorurteilen, Hass und Ausgrenzung, setzt Lösch noch einige Stimmen von Dresdnern entgegen, die sich für Pegida schämen oder auch über fremdenfeindliche Gewalttaten aus eigenem Erleben berichten. Als Einzelner gegen die dumpfe Masse tritt schließlich noch der junge Syrer Joussef Safok auf und erzählt mit ruhigen Worten vom Bürgerkrieg, seiner Flucht nach Europa und der Hoffnung auf eine bessere Zukunft. Die SchauspielerInnen des Ensembles treten zwischen den Szenen immer wieder aus den Rollen und sprechen über ihre persönlichen Gefühle und Gedanken oder geben Erklärungen ab. Dabei werden der Ausverkauf von Empathie, Unvermögen zur Selbstreflexion und ein dauerndes Beleidigt-Sein beklagt. Beim politischen Streit gehen die Risse mittlerweile quer durch die Familien. „Wo seid ihr, warum macht ihr nichts dagegen?“ ruft die junge Schauspielerin Lea Ruckpaul ins Publikum. Sie will „Theater, das die Wirklichkeit verunmöglicht“. Auch Bürgermeister Dirk Hilbert (FDP) und die lösungsunwilligen CDU-Politiker im Land, die die Probleme lieber aussitzen, bekommen in einer minutenlangen Tirade von Annedore Bauer ihr Fett weg.

Daneben wirkt die eigentliche Inszenierung des Dramas in ihrer kantigen Schablonenhaftigkeit wie mit der Axt gehauen und gerät dabei zum bloßen Stichwortgeber für die von Bernd Freytag fantastisch aufgestellten Chöre. Auch aus den Figuren von Frischs Stück fertigt Regisseur Lösch zum größten Teil nur grobe Holzschnitte. Der Staatsanwalt von Ben Daniel Jöhnk ist kaum der sinnierende, bürgerliche Zweifler, der sich von der sinnlos erscheinenden Tat eines Axtmörders (Thomas Braungardt) aus Langeweile inspirieren lässt, sondern ein kühl berechnender und entschlossener Räuberhauptmann. Ein charismatischer Genussmensch, der Zigarren raucht und Ansprachen in der Art eines Karl Moor hält. An seiner Seite lässt die vielseitig begabte Lea Ruckpaul in den drei Frauenrollen Hilde, Inge und Coco in wechselnden Kostümen und Blondperücken ihren Verführungscharme spielen.

Auch die Gegenseite der Macht, bestehend aus Kommissarin, Innenminister und Staatspräsident, ist mit Annedore Bauer und Torsten Ranft ähnlich eindimensional besetzt. Beide können aber ihr komödiantisches Talent für köstliche Politikerkarikaturen und Merkel-Persiflagen nutzen. Im Barockkostüm als sächsischer Kurfürst August der Starke übergibt der Präsident schließlich dem Staatsanwalt ein Schwert als Insignie der Macht. Dieser tritt hier nicht einfach nur mit Coco auf den Balkon der Residenz ab, sondern verbindet sich mit ihr in einem Höllentanz zum Pegida-Duo-Infernale Lutz Bachmann und Tatjana Festerling. Das geht bis zur Erklärung von der Beendigung des deutschen Schuldkomplexes. Was auch gut zu einem immer wieder von westlichen Politikwissenschaftlern prophezeiten Ende der Geschichte passt. Wie man aber unschwer am Phänomen Pegida erkennen kann, geht ein Sieg der liberalen Marktwirtschaft nicht unbedingt mit der uneingeschränkten Durchsetzung demokratischer Denkweisen einher. „Wer, um frei zu sein, die Macht stürzt, übernimmt das Gegenteil der Freiheit, die Macht" heißt es bei Max Frisch. Neben der Freiheit braucht es zur Lösung von Widersprüchen aus Verteilungsungerechtigkeiten echte Visionen und auch den Willen zum Wandel. Also noch jede Menge Handlungsbedarf für die Politik.

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Zuerst erschienen am 01.11.2015 auf Kultura-Extra.

Graf Öderland / Wir sind das Volk
von Max Frisch, mit Texten von Dresdnerinnen und Dresdnern
Textfassung von Volker Lösch, Robert Koall und Stefan Schnabel
Regie: Volker Lösch, Bühne: Cary Gayler, Kostüm: Carola Reuther, Licht: Michael Gööck, Andreas Barkleit, Video: Clemens Walter, Dramaturgie: Robert Koall, Stefan Schnabel
Mit: Ben Daniel Jöhnk, Antje Trautmann, Benjamin Pauquet, Lea Ruckpaul, Thomas Braungardt, Albrecht Goette, Annedore Bauer, Torsten Ranft, Alexandra Weis, Jannik Hinsch, Joussef Safok; Dresdner Bürgerchor: Hartmut Arnstadt, Grit Buchmann, Gunther Ermlich, Friederike Feldmann, Berndt Fröbel, Katrin Hanschmann, Franziska Hauer, Christine Hrzan, Mario Jäkel, Katrin Kaden, Stephanie Kölling, Luise Körber, Gisela Liscovius, Bertolt List, Hans-Joachim Neubert, Bernd Oppermann, Ivaylo Petrov, Andreas Richter, Annabell Schmieder, Ingrid Schulz, Mario Spanninger, Jana Sperling, Hans Strehlow, Günter Tannert, Claudia Weltz, Manja Wildenhain, Sandro Zimmermann

Premiere am Staatsschauspiel Dresden war am 28.11.2015
Dauer: 2 Stunden 15 Minuten, keine Pause

Termine: 30.11., 05.12., 11.12.2015 und 07.01.2016

Infos: http://www.staatsschauspiel-dresden.de

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Stefan Bock

freier Blogger im Bereich Kultur mit Interessengebiet Theater und Film; seit 2013 Veröffentlichung von Kritiken auf kultura-extra.de und livekritik.de

Stefan Bock

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