Granma - Posaunen aus Havanna

Premierenkritik Der neue Dokutheaterabend von Rimini Protokoll im Maxim Gorki Theater bietet einen Geschichtsabriss über 60 Jahre kubanische Revolution

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Granma - Posaunen aus Havanna

Foto: Mikko Gaestel / Expander

60 Jahre kubanische Revolution in einem 135minütigem Theaterabend abzuhandeln ist eine sportliche Leistung. Dennoch hat es Rimini-Protokoll-Mitglied Stefan Kaegi gewagt. Granma - Posaunen aus Havanna am Maxim Gorki Theater ist „eine dokumentarische Zeitreise“ zu den Ursprüngen der sozialistischen Republik Kuba unter Fidel Castro, erzählt von vier Enkeln der damaligen Kämpfer gegen den Diktator Batista. „Granma“ ist der Name der legendären Yacht, mit der die Revolutionäre 1956 von Mexiko aus in Kuba landeten, aber auch der der größten kubanischen Tageszeitung. Anhand der Berichte ihrer Großmütter und -väter, die für die kubanische Revolution lebten und kämpften, fächert die Enkelgeneration, vertreten durch Milagro Álvarez Leliebre, Daniel Cruces-Pérez, Diana Sainz Mena und Christian Paneque Moreda ein interessantes Geschichtspanorama auf, das über die Landung der Revolutionäre, ihren Sieg 1959, die Invasion in der Schweinebucht 1961, die Kuba-Krise 1962, den sozialistischen Aufbau des Landes, das USA-Embargo, den Einfluss von 1968 mit den Pariser Studentenrevolten und dem Prager Frühling, den internationalen Militäreinsätzen Kubas in der arabischen Welt und Afrika in den 1970er Jahren, den Mauerfall und Zusammenbruch des Ostblocks bis in die heutige Zeit mit den Amtsantritten der US-Präsidenten Obama und Trump reicht.

Sportlich an diesem Abend ist auch der Einsatz des jungen Informatikers Daniel Cruces-Pérez, der im Stile eines Baseballspielers mit einer Wasserflasche immer wieder vom Publikum geworfene Sockenbälle schlägt. Das ist nicht nur ein schöner Running Gag, sondern natürlich auch eine Anspielung auf die schwierige Versorgungslage des Landes und die Improvisationskunst der Kubaner, die sich schon früh an Lebensmittelkarten und Zuteilungen von knappen Gütern des täglichen Bedarfs gewöhnen mussten. Daniels Großvater war Kampfpilot in der kubanischen Armee. Wie der Großvater der Musikerin Diana Sainz Mena, der in einer Band für die Streitkräfte an der internationalen Front spielte, schaffe er es bis nach Angola, wo Kuba gegen den Apartheidstaat Südafrika kämpfte. Dennoch gab es auch in Kuba Rassismus, wie Milagro Álvarez Leliebre berichtet. Trotzdem ist sie stolz, dass sie als Erste in ihrer Familie studieren konnte. Die Historikerin, deren Großmutter einfache Näherin war, setzt sich am Rand der Bühne an eine alte Nähmaschine, deren drehendes Rad sie mit dem Fortschreiten der Geschichte vergleicht. Hier darf jeder einmal ran, um den Stoff mit den eingestickten Jahreszahlen stetig vorwärts zu treiben. Geschichte schreibt sich nicht von allein.

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Milagro erklärt uns dann auch die Zusammensetzung einer der üblichen Lebensmittelkarten anhand einer großen Projektion auf der Rückwand. Was fehlte, wurde nach dem Sieg der Revolution enteignet. Der Großvater von Daniel Cruces-Pérez war Kämpfer an der Seite Fidel Castros und später dann Minister für die Rückgewinnung schlecht verteilter Güter, sprich zuständig für die Enteignung von Luxusgütern der kubanischen Bourgeoisie, bis er mit seiner Familie selbst in eine Villa zog, später bei der Partei in Ungnade fiel und auf diplomatischen Umwegen als kubanischer Botschafter in Bulgarien als Leiter der Müllabfuhr in Havanna wieder zurückkehrte. Sein Enkel ist Regisseur von Animationsfilmen und lässt die Ikonen der Revolution wie Fidel Castro und Che Guevara als Pappfiguren vor der Live-Kamera agieren. Auch wird der Einfluss des Unabhängigkeitshelden José Martí gewürdigt. Die Konterfeis der Akteure kubanischer Geschichte sind an der Wand zu sehen. In Posen ahmen die Enkel ihre auf alten Fotos an die Rückwand projizierten Großeltern nach.

Aller Lebenswege sind natürlich stark mit dem Sozialismus auf Kuba verwoben. Nur den Idealismus der Großeltern teilen die Enkel nur noch bedingt. Das Stichwort soziale Gerechtigkeit fällt in diesem Zusammenhang, aber auch die Einschränkung der Freiheit von zu Beispiel Homosexuellen wird erwähnt. Das eine kann das andere nicht ausschließen. Haben die Großeltern und deren Vorfahren noch in den Gefängnissen der Diktatoren und Sklavenbesitzer gesessen, so gibt es auch heute zu Unrecht Inhaftierte in Kuba nicht nur in Guantanamo. Das Thema USA-Imperialismus und Embargo ist wie das Engagement Kubas als Exporteur der Revolution in diesem Geschichtsabriss enthalten. Die persönliche Färbung durch die Schicksale der Großeltern, von denen zumindest zwei auch noch in Videoeinspielungen zu Wort kommen, macht das Vergangene aus ihrer Sicht erfahrbar.

Was den Abend außerdem künstlerisch zusammenhält, ist der Auftritt der vier als sogenannte „Mikrobrigade“, wie sie in Kuba zum Beispiel für den Bau von dringend benötigtem Wohnraum gebildet wurden. Hier aber haben die Alltagszeugen des heutigen Kubas innerhalb der einjährigen Probenzeit Posaune spielen gelernt, was sich musikalisch durchaus ausgezahlt hat. Die Mauern von Jericho werden zwar nicht zum Einsturz gebracht. Man bekommt als linksnostalgischer Westeuropäer aber mal tüchtig den Marsch geblasen. „Warum lächelt ihr so glückselig, wenn ihr uns ‚Sozialismus’ sagen hört?“ fragt Milagro Álvarez Leliebre einmal provokant ins Publikum. Als Projektion ist die kleine Insel des Sozialismus noch immer eine Art Sehnsuchtsort der Linken. Was es heißt, ihn real aufzubauen, oder sich in und an ihm abzuarbeiten, vermag der Abend ganz anschaulich zu vermitteln.

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Zuerst erschienen am 22.03.2019 auf Kultura-Extra.

Granma - Posaunen aus Havanna
Eine dokumentarische Zeitreise von Rimini Protokoll
Konzept und Regie: Stefan Kaegi
Dramaturgie: Aljoscha Begrich, Yohayna Hernández
Dramaturgische Mitarbeit: Ricardo Sarmiento
Regieassistenz: Noemi Berkowitz
Bühne: Aljoscha Begrich
Bühnenassistenz: Julia Casabona
Komposition: ARI BENJAMIN MEYERS
Video: Mikko Gaestel, Marta María Borrás
Sounddesign: Tito Toblerone, Aaron Ghantus
Kostüme: Julia Casabona
Technische Leitung: Sven Nichterlein
Produktion: Maitén Arns
Produktionsassistenz: Dianelis Diéguez, Miriam E. Gonzáles Abad, Federico Schwindt
Hospitant*innen: Lenna Stam, Ignacia González, Joana Falkenberg
Übertitel: Meret Kündig
Übersetzung: Franziska Muche, Anna Galt (Panthea)
Posaunenlehrer: Yoandry Argudin Ferrer, Diana Sainz Mena, Rob Gutowski
Recherche Cuba: Laboratoria Escénico de Experimentación Social , Residencia Documenta Sur
Interviews Cuba: Ricardo Sarmiento Ramírez, José Ramón Hernández Suárez, Maité Hernández-Lorenzo, Karin Pino Gallardo, Taimi Diéguez Mallo
Mit: Milagro Álvarez Leliebre, Daniel Cruces-Pérez, Diana Sainz Mena, Christian Paneque Moreda
Die Uraufführung war am 21. März 2019 im Maxim Gorki Theater
Termine: 23.03.2019 und wieder im Oktober

Infos: https://gorki.de/de/

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Stefan Bock

freier Blogger im Bereich Kultur mit Interessengebiet Theater und Film; seit 2013 Veröffentlichung von Kritiken auf kultura-extra.de und livekritik.de

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