HOWL

Premierenkritik Zu Allen Ginsbergs Langgedicht entwirft David Marton an der Berliner Volksbühne einen assoziativen Bilderreigen mit Musik

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Kaputte Mauerreste, ein paar ramponierte Gasbetonsteine vor Sperrholzkulissen, ein hübscher Springbrunnen sowie ein gut aufgelegtes Gesangs- und Musikensemble, mehr braucht es nicht für ein anständiges „Geheul“. So der deutsche Titel des 1955 erstmals vom Beat-Poeten Allen Ginsberg in einer Galerie in San Francisco selbst performten Langgedichts Howl. Eine Anklage gegen den regressiven Zeitgeist der 1950er Jahre in den USA. Der Text ist durchzogen mit metaphysischen, religiösen und explizit sexuellen Anspielungen und handelt in assoziativen Bildern von autobiografisch angehauchten Erlebnissen des Autors und der sogenannten Beatgeneration. Ein wichtiger Text der US-amerikanischen Underground-Kultur mit Vertretern wie William S. Burroughs oder Jack Kerouac, die sich mit ihren Werken vom etablierten literarischen Mainstream abheben wollten. Ginsbergs Gedicht wurde sofort nach Erscheinen Anlass für einen Gerichts-Prozess gegen den Verleger, in dem es vor allem um die in den Augen der Staatsanwaltschaft obszönen homosexuellen Passagen des Textes ging. Ein Musterprozess für künstlerische Freiheit. Verarbeitet haben das die Regisseure Rob Epstein und Jeffrey Friedman in ihrem 2010 erschienen Film Howl.

Howl heißt auch der Abend des ungarischen Regisseurs David Marton für die Berliner Volksbühne. Marton ist hier kein Unbekannter. Bevor er einige Inszenierungen für die Münchner Kammerspiele unter Matthias Lilienthal erarbeitete, war er während der Intendanz Castorf mehrmals Gast am Haus. Umso schöner, dass Marton nun mit einer neuen seiner eigenwilligen oft an Christoph Marthaler erinnernden Musiktheaterproduktionen zurückgekehrt ist. In der schon beschriebenen Großstadtkulisse von Christian Friedländer tummeln sich mehrere wie verloren wirkende Outsider. Und wie schon Constanza Macras in ihrem Gentrifizierungs-Tanztheaterstück Der Palast ließ sich der Regisseur von fotografierten Straßenszenen inspirieren. Die Volksbühne nennt hier den vor kurzem gestorbenen schweizerisch-amerikanischen Fotografen Robert Frank und seine Momentaufnahmen des alltäglichen Lebens in den 1950er Jahren in den USA. Bilder vom Rand des kaputten amerikanischen Traums, die Marton nun für die Bühne in szenische Bilder mit Live-Musik umzusetzen versucht.

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Zunächst aber betritt Volksbühnenurgestein Sir Henry mit tiefsitzendem Bogart-Stetson die Bühne und spricht, das Wort „holy“ mehrfach repetierend, merkwürdiger weise die Zeilen der später entstandenen Fußnoten des Gedichts. Eine Heiligsprechung der Beatgeneration und ihrer Bop-Apokalypse. In Ewigkeit, Amen. Gemeint ist der Bebop, eine Spielart des Modern Jazz, entstanden in den 1940er Jahren und vor allem gespielt in den Clubs der Schwarzen. Die Musik, die Marton für seine Inszenierung ausgewählt hat, enthält aber nicht nur Elemente des Jazz, sondern vorrangig mixt er Barock-Musik zu modernen treibenden Arrangements mit vier Klavieren, Bläsern, Bass und Drums. Nachdem Volksbühnenschauspielerin Sylvia Rieger mit einer Kaffee-Mühle die Drehbühne zum Laufen gebracht hat, wuselt das Ensemble wie im Drogenrausch in den Kulissen umher und die Figuren wie etwa ein Matrose (Theo Trebs), ein Beatnik in Lederjacke (Jan Czajkowski) oder schillernde bis düstere Frauengestalten (Jill Emerson, Marie Goyette, Sarah Maria Sander, Yuka Yanagihara) fügen sich immer wieder zu vielen kleinen Szenen zusammen. Thorbjörn Björnsson bearbeitet die Drums und geriert sich wie ein verstörter Geisteskranker, Castorf-Mime Hendrik Arnst poltert als Polizist umher und maßregelt die Hipster mit rassistischen Sprüchen.

Ein zweiter Part aus Howl handelt von der Irrenanstalt Rockland, in der Carl Solomon, dem Ginsberg das Gedicht widmete, einsaß. „I’m with you in Rockland“ lautet hier die wiederkehrende Beschwörungsformel. Sylvia Rieger darf dann noch lauthals den „Moloch“ beschreien. Eine Anklage gegen die Großstadt und das herrschende Kapital als „Sphinx aus Zement und Aluminium“. Mehr hat Marton mit dem Text von Allen Ginsberg nicht im Sinn. Es bleibt beim assoziativen Bilder- und Musiktheater, das mehr kunstvoll choreografierte Performance ist, als erklärende Interpretation oder politisches Statement. Trotzdem ist Marton damit dicht dran am Stoff. Musikalisch entfernt er sich aber aus der Zeit der Beatniks zurück ins Zeitalter des Barock. Vor allem gesanglich ist das ein Genuss, der mit einem vielstimmigen zum Teil etwas schrägen Lacrimosa aus Giovanni Battista Pergolesis Stabat Mater gekrönt wird. Doch schon nach 80 Minuten ist dieser etwas melancholische Bilderreigen wieder vorbei und in unserer schnelllebigen Zeit auch sicher bald vergessen.

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Zuerst erschienen am 23.11.2019 auf Kultura-Extra.

HOWL (Volksbühne Berlin, 21.11.2019)
Regie: David Marton
Bühne: Christian Friedländer
Kostüme: Tabea Braun
Choreografie: Jill Emerson
Licht: Henning Streck
Dramaturgie: Peggy Mädler, Henning Nass
Mit: Hassan Akkouch, Hendrik Arnst, Thorbjörn Björnsson, Paul Brody, Jan Czajkowski, Jill Emerson, Marie Goyette, Silvia Rieger, Sarah Maria Sander, Sir Henry, Theo Trebs und Yuka Yanagihara
Premiere war am 21. November 2019.
Weitere Termine: 08., 22.12.2019

Weitere Infos siehe auch: https://www.volksbuehne.berlin

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Stefan Bock

freier Blogger im Bereich Kultur mit Interessengebiet Theater und Film; seit 2013 Veröffentlichung von Kritiken auf kultura-extra.de und livekritik.de

Stefan Bock

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