Hunger. Peer Gynt

Premierenkritik Sebastian Hartmann malt Hamsuns irrlichternden Roman herbstlich düster auf die Bühne des Deutschen Theaters Berlin und collagiert ihn assoziativ mit Ibsens Versepos

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Knut Hamsun (1859-1952), zwiespältiger norwegischer Schriftsteller mit Nobelpreis (1920) und späterer Sympathie für Hitler und den deutschen Nationalsozialismus, ist v.a. bekannt für seinen 1890 erschienene Debut-Roman Hunger, in dem er autobiografisch angehaucht den mittellosen Schriftsteller Andreas Tangen im Hungerdelirium durch Kristiania (heute Oslo) vagabundieren lässt. Der Roman ist ein Beispiel für die Erzähltechnik des Bewusstseinsstroms und beschreibt ungeschönt die vergeblichen Versuche jenes Schriftstellers sich mit dem Schreiben von Zeitungsartikeln über Wasser zu halten. Von Hunger getrieben durchlebt er Halluzinationen und Wahnvorstellungen, hat literarische Ideen und quält sich doch damit, diese nicht verwirklichen zu können. Der Hunger nach künstlerischem Erfolg wird überlagert vom ganz real existierenden Hunger zu Überleben.

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Sebastian Hartmann ist Spezialist für psychologische Stoffe von Henrik Ibsen bis August Strindberg, hat mit Leo Tolstoi, Fjodor Dostojewskij und Thomas Mann schon große Literatur auf die Bühne gebracht und mit Alfred Döblins Berlin Alexanderplatz auch assoziative Bewusstseinsströme adäquat bebildert. Nun verschränkt er am Deutschen Theater Berlin in seiner neuen Regiearbeit Hunger. Peer Gynt Passagen aus Hamsuns Roman mit Motiven aus Ibsens norwegischem Nationalepos. Die Nähe der beiden männlichen Hauptpersonen und egomanischen Einzelgänger ist nicht rein nationaler, nordischer Art, sondern erschließt sich mehr über den Willen, aus unterprivilegierter Position Großes erreichen zu wollen. Wie Ibsens Peer Gynt sich eine eigene Welt zusammenlügt, so versucht auch der Protagonist aus Hamsuns Hunger mit der Behauptung vermeintlicher Vorhaben groß raus zu kommen.

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Im ersten Teil des Abends verkörpert nach und nach das gesamte Bühnen-Ensemble den hungernden und im inneren Monolog mit sich kämpfenden Literaten. Der Künstler im Zwiespalt und Ringen mit sich selbst und dem aufkommenden Wahn. Eines der großen Themen des Regisseurs. Natali Seelig tritt als erste aus dem dicht wabernden Bühnennebel und spricht erste Textfetzen vom Erfinden des Worts „Kuboa“, dessen Bedeutung Hamsuns Protagonist selbst noch nicht kennt. So ist es auch mit der Inszenierung, die sich wie aus dem Nebel kommend selbst erschafft. Wir sehen das Ensemble beim gemeinsamen Übermalen einer auf drei bühnenhohe Leinwände projizierten apokalyptischen Landschaft von Tilo Baumgärtel. Erschaffen und Übermalen. Die Ichwerdung und Wiederauslöschung des Individuums als künstlerischer Akt. Das kennt man schon aus Hartmanns Dresdner Inszenierung von Dostojewskijs Erniedrigte und Beleidigte. Hamsuns Hungerkünstler entsteht in fast choreografierten Szenen- und Textcollagen. Wer bin ich? Wo geht es hin? Lebensstrom und Lebensrausch. „Im Magen gärt der Sinn der Existenz.“ heißt es bei Hamsun. Hier lassen einen Hartmann und sein Ensemble zumindest im Erschaffen eines düsteren Bildrauschs nicht verhungern.

Von Ibsens Schwerenöter Peer Gynt ist da noch nichts zu sehen. Wer in der offenen Pause nach zwei langen Stunden entnervt das Theater verlässt, was bis zu diesem Zeitpunkt durchaus verständlich wäre, verpasst allerdings im zweiten Teil den Umschluss zu Ibsens Werk, dass nun auch textlich zu erkennen ist. Bildlich bleibt es düster. Das projizierte Gemeinschaftsbild im Hintergrund steht nun Kopf und wird wieder wild überpinselt. Musikalisch wird es jetzt recht pathetisch opernhaft. Peer Gynt ist da ja selbst auch Vorbild. Erkennbar sind Anfangsmotive aus dem Schauspiel wie der Ritt auf dem Bock über den Grat, den Peer seiner alten Mutter Ahse erzählt, die Episode der Begegnung mit dem Krummen („Geh außen rum“) und das Ende, das hier Almut Zilcher am Boden liegend als Todeswahrnehmung beschreibt. Alle treten hier immer wieder lichtpunktartig aus dem Ensemble heraus, oder gruppieren sich zu frei choreografierten Bewegungsposen an der Rampe.

Der wahnhafte Mensch als wahrer Künstler, der durch die alles regulierende und nivellierende Vernunft der Aufklärung zuerst analysiert, dann pathologisiert und schließlich weggesperrt wird. Eine düstere Zukunftsvision, die hier Peter René Lüdicke am Ende allein im Regen sitzend ausmalt. „Meine Wahrheit, das tat ich alles nur für mich.“ Hartmann montiert einige Fremdtexte und Bibelzitate von Kain und Abel in den irrlichternden, zuweilen sperrig wirkenden Abend. Keine allzu leicht verdauliche Kost, die der Regisseur dem Publikum auftischt, aber doch auch lohnendes Theater.

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Zuerst erscheinen am 20.10.2018 auf Kultura-Extra.

Hunger. Peer Gynt
nach Knut Hamsun und Henrik Ibsen
Regie: Sebastian Hartmann
Kostüme: Adriana Braga Peretzki
Bild / Installation / Video: Tilo Baumgärtel
Licht: Lothar Baumgarte
Dramaturgie: Claus Caesar
Mit: Elias Arens, Edgar Eckert, Manuel Harder, Marcel Kohler, Peter René Lüdicke, Linda Pöppel, Linn Reusse, Natali Seelig, Cordelia Wege, Almut Zilcher
Die Premiere war am 19.10.2018 im Deutschen Theater Berlin
Termine: 23., 26.10. / 11., 22., 29.11.2018

Infos: www.deutschestheater.de/

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Geschrieben von

Stefan Bock

freier Blogger im Bereich Kultur mit Interessengebiet Theater und Film; seit 2013 Veröffentlichung von Kritiken auf kultura-extra.de und livekritik.de

Stefan Bock

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