Love it or leave it!

Theater Am Maxim Gorki Theater Berlin inszenieren Nurkan Erpulat und Tunçay Kulaoğlu eine Art türkische Familienaufstellung am Rande des Abgrunds

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Der Abend schwankt beständig zwischen Tragik, Komik und Slapstick
Der Abend schwankt beständig zwischen Tragik, Komik und Slapstick

Bild: drama-berlin.de/imago

Projekte oder Stückentwicklungen, gerne auch gemeinsam mit dem Ensemble und migrantischem Hintergrund, heißen die Zauberworte nicht erst seit dieser Spielzeit am Maxim Gorki Theater. Im Projekt Love it or leave it! von Nurkan Erpulat und Tunçay Kulaoğlu geht es um die momentane gesellschaftliche Verfasstheit der Republik Türkei. Ein Déjà-vu aus immer wiederkehrenden Ereignissen, ein Film den man glaubt, schon mal gesehen zu haben, wie es Dramaturg Tunçay Kulaoğlu bei der kurzen Einführungsveranstaltung im Rangfoyer beschreibt. Die rasante Entwicklung der letzten Jahre vermittele einem den Eindruck, immer zu spät zu sein. So ist man während der Arbeit am Stück auch vom Putschversuch im Juli dieses Jahres kalt erwischt worden. Das Militär putschte nicht zum ersten Mal in der Geschichte der Türkei, nur scheint man das im kollektiven Gedächtnis der Bevölkerung verdrängt zu haben. Die Zustimmung für Präsident Erdogan ist relativ ungebrochen. Dass sich die Türkei dabei immer mehr in eine präsidiale Diktatur verwandelt, lässt die oppositionellen Kräfte in einer Art Schockstarre zwischen Heimatliebe und Landesflucht verharren.

Dem tragen die Macher des Abends mit einer längeren Exposition Rechnung. Man übt sich zunächst in guter türkischer Tradition: Rauchen und Tee trinken. Da kann es schon mal etwas dauern, bis einem die passenden Worte einfallen. Derweil sitzt das Ensemble auf der Guckkastenbühne mit schrägen Wänden, rührt verlegen im Teeglas und vermittelt das Gefühl von lähmender Agonie. Eine in türkische Landesfarben gekleidete Frau (Lea Draeger) hat den Kopf schon in der Schlinge, während die anderen sich langsam zu den Harmoniumklängen (Philipp Haagen) des Doors-Songs The End zu bewegen beginnen. Ein Tanz mit dem Tod, ein Land im Taumel, ins Seil verstrickt, das immer wieder nachgibt. Eine starke Metapher, die uns sagen will, dass man dort nicht leben und nicht sterben kann.

Eingebetteter MedieninhaltFoto (c) Esra Rotthoff

Es beginnt dann mit einem ironischen Phantasiekauderwelsch aus türkischen Brocken, gemixt mit Schlagwörtern wie „Erdogan“ oder „Frauke Petry“, die Taner Şahintürk ins Publikum wirft, das nicht verstehen kann und dennoch zu ahnen glaubt, was da vor sich geht. Es folgt eine Collage aus kabarettartigen Szenenfolgen, die zumindest einen Eindruck davon vermitteln wollen, wie die türkische Gesellschaft und ihre kleinste Keimzelle, die Familie, tickt. Die wird hier zunächst von einem als Imam gekleideten Mann (Tim Porath) zur Familienaufstellung gebeten. Es geht um ein Strukturproblem. Irgendetwas stimmt nicht mehr mit der Familie. Am Beispiel eines Gleichnisses des durch göttliche Schöpfung gewachsenen Apfelbaums und der nach Blut dürstenden Mücke vermittelt der Geistliche den Eltern und Kindern ihren angestammten Platz in der Hierarchie, was die Tochter (Lea Draeger) auf die Knie und unter den Tisch zwingt, dem Vater (Philipp Haagen) Respekt zollend.

Ein Firmenchef (Taner Şahintürk) hält eine Rede mit Allgemeinplätzen des Zusammenhalts und wird dafür von seiner Belegschaft am Hintern geküsst. Ein Liebespaar (Aylin Esener und Mehmet Yılmaz) versteckt sich vor den nach Ruhe brüllenden Nachbarn im Schrank und eine Mutter (Lea Draeger) reglementiert ihren erwachsenen Sohn (Mehmet Yılmaz). Die türkische Gesellschaft zwischen Rebellion und Anpassung. Wer das nicht mehr aushält, versucht sich das Leben zu nehmen. Tim Porath als Mann der Frau mit dem Strick verzweifelt an der Realität und seinem Werbejob und bittet seine Frau, trotzdem auszuhalten. Dazwischen taucht immer wieder ein staubiger, am Kopf blutender Mann (Taner Şahintürk) auf und singt ein kurdisches Lied. Doch die Türken verstehen ihn nicht. Er kommt im falschen Moment, da alle mit ihren eigenen Problemen beschäftigt sind.

Man schielt und hascht immer wieder begehrlich nach einer am Strick baumelnden Bananenstaude, die bei Berührung elektrische Schläge verursacht. Die Führer der Bananenrepublik Türkei haben ihr Schwarzgeld in Schuhkartons versteckt. Eine Anspielung auf einen Korruptionsskandal, in den auch AKP-Chef Erdogan und sein Sohn verwickelt waren. So schwankt der Abend beständig hin und her zwischen Tragik und Komik, Slapstick und einem wütenden Lamento von Mehmet Yılmaz auf die Hassliebe Türkei. Ein magischer Reigen zu osmanischer Blasmusik. Das ist nicht immer künstlerisch ausgereift, vor allem der Text von Emre Akal hat doch einige Schwächen. Neben dem Erdogan-Zitat über die Demokratie als Straßenbahn, aus der man austeigen kann, wenn man das Ziel erreicht hat, oder türkischen Dichterversen hört man so manche improvisierte Banalität, bis es auf der Bühne rumpelt und sich der Abgrund in einem Loch manifestiert. Danach sitzt man wieder beim Tee und wartet auf die nächste Erschütterung, oder einen neuen Rattenfänger. Die Hoffnung stirbt zuletzt.

Love it or leave it! (Maxim Gorki Theater, 18.11.2016)
Ein Projekt von Nurkan Erpulat und Tunçay Kulaoğlu
Regie: Nurkan Erpulat
Text: Emre Akal
Bühne/Kostüme: Alissa Kolbusch
Musik: Philipp Haagen
Dramaturgie: Tunçay Kulaoğlu
Mit: Lea Draeger, Aylin Esener, Philipp Haagen, Tim Porath, Taner Şahintürk, Mehmet Yılmaz
Uraufführung im Maxim Gorki Theater war am 11.11.2016
Termine: 23.11. / 23. und 28.12.2016

Infos: http://www.gorki.de/

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Stefan Bock

freier Blogger im Bereich Kultur mit Interessengebiet Theater und Film; seit 2013 Veröffentlichung von Kritiken auf kultura-extra.de und livekritik.de

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