Nachtasyl

Theater Michael Thalheimer stellt an der Berliner Schaubühne das Nachtasyl von Maxim Gorki in die Kanalisation

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Es wird immer gern vom Bodensatz der Gesellschaft gesprochen, der bevorzugt die Plätze der Konsum-Metropolen bevölkert, auf denen er nach Brosamen, gefallen vom Tisch derer, die sich noch oben halten können, hascht. Er ist gefallen durch das soziale Netz, das schon lange keines mehr ist, wie auch der Sozialstaat selbst sich längst in die Höhen des neoliberalen Heils verflüchtigt hat. Wer daran teil und also eine Arbeit hat, drückt sich täglich an den Elendsgestalten in S- und U-Bahnen vorbei, die ein wenig der Luft von ganz da unten mitbringen, deren Duft nicht einer der „freien“ Welt, sondern der von verbrauchtem Atem ist, dem Pesthauch der Zivilisation. Eine Teilhabe an den Verlockungen des Marktes ist denen am Boden nur aus der Perspektive des Bittenden möglich. Abgestoßen von einer Panzerung aus Gleichgültigkeit, die nur hin und wieder kurz mit dem Griff der einen Hand ins Portemonnaie und der anderen zum Taschentuch durchbrochen wird. Geld stinkt für gewöhnlich nicht, aber den Mittellosen stigmatisiert der Geruch seiner Herkunft umso mehr.

Noch 'n Gedicht im Röhrenlicht

All das gilt nicht erst seit Maxim Gorki ein Theaterstück mit dem Namen Nachtasyl - Szenen aus der Tiefe (russisch На дне / Na dne [wörtlich: Am Boden]) geschrieben hat. Es beschreibt das Menetekel des sich weidenden und ausweidenden Kapitalismus, den Gestank einer sterbenden Welt, die sich selbst als Sieger in die Geschichtsbücher geschrieben hat. Die Verlierer sieht man allenthalben, befreit und gefangen zugleich, vor den Tempeln des Konsums, an dessen Rändern und Orten des Vergnügens, vor und nun auch wieder auf dem Theater, das in diesem Falle am Ende der Flaniermeile Kurfürstendamm steht. Die Berliner Schaubühne zeigt nun Gorkis Drama in der Regie des Stückentkerners und Essenzauspressers Michael Thalheimer, der hier bereits Tolstois Giermenschen aus Macht der Finsternis in enge Rattengänge zwängte.

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Nachtasyl an der Schaubühne - Foto (c) Katrin Ribbe



Besagter Bodensatz rutscht zu Beginn aus einem bühnenbreiten Schlitz in eine betonfarbene Röhre (Bühne: Olaf Altmann), die die Ausmaße eines mannshohen Abwasserkanals hat. Bräunliche Rinnsale an den Wänden lassen keinen Zweifel aufkommen über diesen Ort am Boden: Der höhlenartige Gorki`sche Kellerraum als eine mit Scheiße volllaufende Resterampe der Konsumgesellschaft. Von dort sind auch die Kostüme. Ein zeitloser Elendsschick, von Nehle Balkhausen wie aus einem veristischen Otto-Dix-Szenario ausgewählt, der im Laufe des Abends sein verwaschenes Aussehen der Farbe des Röhrenausflusses anpassen wird. Einziger Kontrast dazu ist das Blut, das hier schwindsüchtig gehustet oder aus den schmutzigen Körpern geprügelt wird.

„Dreck, Dreck, Dreck, Schweine!“ keift die kaltherzige Herbergswirtin Wassilissa Kárpowna (Jule Böwe), voller Verachtung mit dem ausgestreckten Finger um sich zeigend. Und wie aus Hundekehlen bellt der Menschenmüll zurück. Ein ehemaliger Baron (Ingo Hülsmann im speckigen Satinpyjama) robbt vor dem Kleinganoven Wassja Pepel (Christoph Gawenda) für ein paar Kopeken sogar auf allen Vieren. Und selbst die Wirtin ruft wie das Zicklein aus dem russischen Märchen nach ihrem Geliebten Pepel, dem sie sich rücklings darbietet, in der Hoffnung, er würde ihren verhassten Mann Kostýlew (Andreas Schröders) umbringen. Die Entmenschlichung befindet sich im fortgeschrittenen Stadium, Mitgefühl und Scham kann sich hier keiner mehr leisten.

Die letzten Reste von Selbstachtung sind im Dauerdelirium wärmender Demenz und Gleichgültigkeit verlorengegangen. Als ob ein Nebel auf dem Gehirn läge, wie es der Baron ausdrückt. Dieses Vergessen wird nur durchzuckt von wenigen Erinnerungssplittern aus einem vergangenen Leben. Begeistert erzählt die Hure Nastja (Eva Meckbach) von Romanzen aus Liebesromanen, die sie für ihre eigenen hält. Der Baron faselt von Kaffee am Morgen und ein namenloser Schauspieler (Felix Römer) von früherer Größe, hat den Text dazu aber längst vergessen. So hocken sie beieinander, brüllen abgehackte Sätze, schwingen sich hin und wieder hoch zum Schlitz an die Luft und rutschten danach die Schräge wieder zurück nach unten.

http://blog.theater-nachtgedanken.de/wp-content/uploads/2015/06/nachtasyl_133_Foto-c-Katrin-Ribbe.jpgNachtasyl an der Schaubühne - Foto (c) Katrin Ribbe



„Ich sterbe.“ sind die ersten Worte der schwächlichen Anna (Alina Stiegler), wiederholt direkt ins Publikum gerichtet. Wenig später ist es dann auch so weit. Und unter tätiger Mithilfe des zuvor noch Trost spendenden Pilger Luka (Tilman Strauß als Einziger ganz in Weiß) liegt die von ihrem Mann, dem Schlosser Klesc, Misshandelte am Boden. Sie ist selbst im Tod noch allen im Weg. Die anderen werden im Laufe des Abends mehrmals über die tote Anna steigen müssen. Klesc denkt dabei nur an sein Werkzeug, das er für die Beerdigung versetzen muss. Peter Moltzen spielt ihn kurz angebunden, kalt und teilnahmslos stierend. Die allgemeine Stimmung ist abgestumpft, die zugefügten Wunden zieren gleichermaßen Körper wie Seele. Mit ausgebreiteten Armen wie eine leidende Jesusfigur steht die an den Beinen verbrühte Natascha (Lise Risom Olsen) stumm an der Rampe.

Die dumpfe Wucht der Inszenierung speist sich zusätzlich aus einer konsequenten Deutung der zwiespältigen Figur des Luka hin zu einem seine Heilsversprechen auf eine bessere Welt gleich selbst als bloße Jenseitslügen entlarvenden Zyniker. Den Wahrheitsfanatiker Satin legt Thalheimer sogar mit dem träge schwatzenden Mützenmacher Bubnow zusammen. David Ruland spricht seinen Text vom Menschen einfach dröhnend gegen die Wand. Kein Hoffnungsschimmer, nirgends. Dazu wummert der Gitarrenbeat von Bert Wrede und läuft die Jauche weiter die Röhrenwände herunter. Gorki war sein Stück später nicht mehr scharf und kritisch genug. Thalheimer will ihm wider allen philosophierenden Ballast die Klarheit zurückgeben. „Wir brauchen kein Mitleid.“ Aber auch Solidarität war gestern.

Dem Schauspieler bleibt nur das kurze Rezitieren hehrer Verse aus Goethes Faust (Zweiter Teil, 1.Akt, Anmutige Gegend): „Hinaufgeschaut! - Der Berge Gipfelriesen / Verkünden schon die feierlichste Stunde / Sie dürfen früh des ewigen Lichts genießen / Das später sich zu uns hernieder wendet.“ Das ist dann an Zynismus sicher nicht mehr zu überbieten. Es könnten ebenso die Zeilen des russischen Volkslieds aus Gorkis Stück sein, die da lauten: „Auf und nieder geht die Sonne / Dunkel bleibt mein Kerker doch…“. Das war Regisseur Thalheimer dann aber offensichtlich zu sentimental. Schlussendlich geht der desillusionierte Mime ab, um sich selbst aus Kellerloch und Leben zu befreien. „Damit hat er uns den Abend versaut“, ist die Reaktion der Zurückgebliebenen. Ein nachhaltig treffenderes Statement könnte diese Inszenierung nicht abgeben. Betretenes Schweigen.

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Zuerst erschienen am 16.06.2015 auf Kultura-Extra.

Nachtasyl (09.06.2015)
von Maxim Gorki
Fassung von Jürgen Gosch und Wolfgang Wiens nach der Übersetzung von Andrea Clemen
Premiere in der Schaubühne am Lehniner Platz war am 06.06.2015
Regie: Michael Thalheimer, Bühne: Olaf Altmann, Kostüme: Nehle Balkhausen, Musik: Bert Wrede, Dramaturgie: Bernd Stegemann, Licht: Erich Schneider
Mit: Jule Böwe, Christoph Gawenda, Ulrich Hoppe, Ingo Hülsmann, Eva Meckbach, Peter Moltzen, Lise Risom Olsen, Bernardo Arias Porras, Felix Römer, David Ruland, Andreas Schröders, Alina Stiegler, Tilman Strauß

Dauer: 1 Stunde 30 Minuten, keine Pause.

Termine: 17.06. und 23.-25.06.2015

Infos: http://www.schaubuehne.de

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Geschrieben von

Stefan Bock

freier Blogger im Bereich Kultur mit Interessengebiet Theater und Film; seit 2013 Veröffentlichung von Kritiken auf kultura-extra.de und livekritik.de

Stefan Bock

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