Ödipus der Tyrann

Premierenkritik An der Berliner Schaubühne inszeniert Romeo Castellucci Friedrich Hölderlins Sophokles-Übersetzung als christlich-antikes Mysterienspiel.

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Der umstrittene, italienische Extremtheatermacher Romeo Castellucci hat eine ganz besondere Affinität zu Friedrich Hölderlin. Und was ihn an dem deutschen Dichter zwischen Aufklärung, Klassik und Romantik wohl am meisten interessiert, ist wohl genau diese Zerrissenheit - einerseits für politische Umwälzung zu kämpfen und andererseits, wie die meisten deutschen Dichter seiner Zeit auch, die Schönheit der klassischen Antike zu verehren, ja sie sogar in seinen Werken zu verklären. Der Dramatiker Peter Weiss, der Hölderlin in einem Theaterstück in den Kontext von Zeit und den ihn umgebenden Persönlichkeiten stellte, sah in ihm sogar so gegensätzliche Pole der französischen Revolution wie den poetischen Visionärs de Sade und den tätigen Politiker Jean Paul Marat in einer Person vereint.

Diesem Zusammenhang der beiden Extreme von Radikalität und Schönheit in Hölderlins Werk ist Castellucci 2013 in seiner ersten Arbeit für die Berliner Schaubühne Hyperion. Briefe eines Terroristen nachgegangen. Das polarisierte Kritiker und Publikum gleichermaßen, wie nun auch die Zusammenlegung einer düster kontemplativen Klosterästhetik mit der antiken Tragödie des Ödipus von Sophokles in der ästhetisch ebenso ungewohnten Übersetzung von Friedrich Hölderlin zuerst einmal überrascht. Zumindest war man gespannt, ob man die neue Inszenierung von Romeo Castellucci Ödipus der Tyrann wohl unbehelligt durchsitzen können oder wieder rüde von einer Sondereinheit der Polizei nach einem Terroreinsatz auf halbdunkler Bühne kurzzeitig des Saales verwiesen werden würde.

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Ödipus der Tyrann in der Schaubühne am Lehniner Platz - Foto (c) Arno Declair

Keine Bange, man kann beruhigt sitzenbleiben und etwa eine halbe Stunde lang den stummen Verrichtungen von schwarz und weiß gewandeten Nonnen beiwohnen, die im Halbdunkel in den sich immer wieder zu neuen Räumen verschiebenden Kulissen umherhuschen, sich zum Essen und Gebet zusammenfinden und wunderschöne geistliche Kantaten und Choräle in lateinischen Sprache singen. Die andächtige Stimmung stören nur dräuend knarrende Geräusche wie von Grufttüren und das Hüsteln kranker Nonnen, von denen dann auch eine stirbt. Es folgen Aufbahrung und Grabpflege im Klosterhof. Schwerer Weihrauchduft breitet sich aus. Nachdem sich der dunkle Gazevorhang hebt und Licht in eine der Zellen dringt, findet die Vorsängerin der Nonnen (Angela Winkler) unter dem Bett der Verstorbenen ein Buch mit dem Titel Ödipus der Tyrann und beginnt darin zu lesen.

Die Bühne öffnet sich nun zu einem weiten, weißen tempelartigen Raum mit Altar und seitlichen in die Rückwand eingelassenen Treppen. Und um (vom Rezensenten vielleicht etwas fahrlässig assoziiert) auf den Anfang zurückzukommen, switchen nun die scheinbar virusbefallenen Nonnen - ähnlich wie bei Peter Weiss, wo die Insassen eines Pariser Irrenhauses unter der Leitung des Marquise des Sade das Stück über die Ermordung des französischen Revolutionärs Marats proben - in die Rollen der antiken Tragödie des Sophokles und deklamieren mit ebensolcher Inbrunst, wie vorher schon beim Gesang, die sprachlich hoch verkünstelten Verse Hölderlins.

Ödipus der Tyrann von einer streng strukturierten Gemeinschaft von lauter Nonnen spielen zu lassen, wirkt, wie schon gesagt, zunächst etwas abstrus. Dieser religiös geordnete Frauenstaat im Staate beschäftigt sich mit der bekannten Tragödie von Schicksal, Mord, Inzest und natürlich auch der Frage nach Schuld und Sühne: Der in Theben regierende König Ödipus wurde als Kind von seinen Eltern ausgesetzt, aus Angst, er könne gemäß eines Orakels den Vater töten und die Mutter heiraten. Nach seiner Rettung am Hofe Korinths aufgewachsen, verlässt Ödipus, nachdem er selbst von dem Orakelspruch erfahren hat, seine vermeintlichen Eltern und gerät so in genau den prophezeiten Schlamassel, der heute noch Stoff für die Theaterbühne wie auch die Freud'sche Psychoanalyse ist.

Bernardo Arias Porras - Foto (C) Arno Declair

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Einen neuen Blick auf das „Muster der Tragödie und das Urbild familiärer und sexueller Traumata und Tabus“ will Castellucci laut Webseite der Schaubühne erlangen. Was man letztendlich sieht, ist ein hochartifizielles Spiel inmitten immer wieder wechselnder Tableau vivants des Nonnenchores und seiner Führerin, das christliche Symbole mit denen antiker Mythologie kombiniert. König Ödipus, verkörpert von der Schauspielerin Ursina Lardi, steht hier im antiken Gewand wie eine leuchtende Jesusgestalt und gleichzeitig Pontius Pilatus über dem Altar. Bei der Ergründung allen Übels, das mit der Pest über Theben hereingebrochen ist, fungiert er gleichzeitig als Aufklärer und Angeklagter in einer Person. Sein eigentlicher Widersacher Kreon, der ihn erneut mit dem Orakelspruch und den Weissagungen des blinden Sehers Teresias konfrontiert, wirkt bei Jule Böwe mit Wallegewand und Schlüssel wie Petrus. Bernardo Arias Porras als Teresias und einziger Mann im Ensemble sieht im Fellschurz aus wie eine Mischung aus Pan und Johannes dem Täufer. Er hält auch passend dazu Kreuzstab und Lamm in Händen. Als religiöser Eiferer gerät der Seher regelrecht in Rage, dass die ganze Bühne erzittert. Die wie Maria leidende Iris Becher als Ödipus' Frau Iokaste und Rosabel Huguet als guter Hirte vereinen mit weißer Calla und Palmwedel christliche und antike Auferstehungssymbolik. Ist ja auch bald wieder Ostern.

Die Selbstblendung des Ödipus inszeniert Castellucci als Videoaktion, in der er sich höchst persönlich Pfefferspray in die Augen sprühen lässt. Das Martyrium des sich selbst als Übeltäter Erkennenden kommt so zumindest recht anschaulich rüber. Außer der Tatsache, dass Castellucci hier die Urkräfte der Mythologie mit anderen religiösen Kräften in einen Zwiespalt bringt, was das Gefüge der Macht erschüttert und neu ordnet, kann man allerdings nicht sehr viel mehr Erhellendes aus dieser Kombination herleiten. Es sei denn, man ist gewillt, der etwas provokant angelegten Auffassung des Regisseurs zum Verhältnis von Schuld, Aufklärung und Textexegese zu folgen. Zu all dem lässt sich dann das Programmheft lang und breit aus. Ansonsten kann man sich zwei Stunden lang entspannt zurücklehnen und den Text auf sich wirken lassen, dessen Darbietung erwartungsgemäß von Angela Winkler und Ursina Lardi am besten beherrscht wird. Die Bilder haben nichts wirklich Verstörendes. Die politische Dimension des Stücks lässt Castellucci zu Gunsten der künstlerischen Darbietung außer Acht und huldigt passend zum Frauentag ganz der ewigen Macht weiblicher Schönheit.

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Zuerst erschienen am 08.03.2015 auf Kultura-Extra.

Ödipus der Tyrann nach Sophokles / Friedrich Hölderlin

Premiere am 6. März 2015 in der Schaubühne am Lehniner Platz

Regie, Bühne und Kostüme: Romeo Castellucci, Künstlerische Mitarbeit: Silvia Costa, Mitarbeit Bühne: Mechthild Feuerstein, Musik: Scott Gibbons, Video: Jake Witlen, Dramaturgie: Piersandra Di Matteo, Florian Borchmeyer, Licht: Erich Schneider, Korrepetition: Timo Kreuser, Dolmetscherin: Nora Hertlein, Skulpturen auf der Bühne: Giovanna Amoroso, Istvan Zimmermann – Plastikart Studio

Mit: Bernardo Arias Porras, Iris Becher, Jule Böwe, Rosabel Huguet, Ursina Lardi, Angela Winkler. Chor: Malene Ahlert, Amelie Baier, Ursula Cezanne, Sophia Fabian, Eléna Fichtner, Margot Fricke, Eva Günther, Rachel Hamm, Andrea Hartmann, Annette Höpfner, Nadine Karbacher, Sara Keller, Pia Koch, Feline Lang, Marion Neumann, Monika Reineck, Vanessa Richter, Helga Rosenberg, Ria Schindler, Janine Schneider, Regina Törn, Christina Wintz. Solistinnen: Sirje Aleksandra Viise / Eva Zwedberg

Dauer: 2 Stunden, keine Pause

Termine: 09.03., 10.03., 26.03., 27.03., 30.03. und 31.03.2015

Infos: http://www.schaubuehne.de/de/produktionen/oedipusder-tyrann.html

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Geschrieben von

Stefan Bock

freier Blogger im Bereich Kultur mit Interessengebiet Theater und Film; seit 2013 Veröffentlichung von Kritiken auf kultura-extra.de und livekritik.de

Stefan Bock

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