Pop-Kultur Berlin 2016

Festival Post-heroische Pop-Theorien von Jens Balzer und die Realität auf der Pop-Kultur 2016 in Neukölln

Bei diesem Beitrag handelt es sich um ein Blog aus der Freitag-Community.
Ihre Freitag-Redaktion

Auch das ist Pop-Kultur: Am zweiten Tag erfüllte das Festival der zwanglosen Gegenwartskultur eines anything goes mit dem Auftritt von Selda Bağcan in Huxleys Neuer Welt seinen kultur-politisch korrekten Auftrag. Mitten im Herzen von Berlin-Neukölln sprach die 68jährige, als anatolische Joan Baez verehrte, Sängerin vor einer kleinen standhaften türkischen Community von Freedom and Democracy. „The Show must go on.“ Und das Publikum dankte ihr die aufmunternden Worte und hing begeistert an den Lippen der kleinen Frau mit leuchtend orangefarbenen Haarschopf, als diese ihre türkischen Folkhymnen mit Unterstützung der israelischen Rockband Boom Pam sang.

Draußen auf der Karl-Marx-Straße ist man dann wieder in der Realität angekommen. Deutschsprachiger Gangsta-Rap dröhnt aus fetten Boxen vor den Einkaufstempeln am Neuköllner Rathaus, wo die Pop-Kultur auf dem Alfred-Scholz-Platz ihr Ticket-Häuschen aufgestellt hat. In einer Nebenstraße liegt das Szene-Café Prachtwerk. Hier werden etwas leisere Töne angeschlagen, und der stellvertretende Feuilleton-Chef der Berliner Zeitung und Pop-Musik-Kritiker Jens Balzer liest aus seinem Buch POP. Ein Panorama der Gegenwart.

Eingebetteter Medieninhalt

Das ist so weit weg von Neukölln, dass man über Balzers These vom Ende der heterosexuellen Männlichkeit nur schmunzeln kann. Aber vielleicht wird auch hier, wie bei Balzer zu lesen, das machohafte Gehabe bald durch einen melodiöseren und kommerziell erfolgreicheren Rap eines Kanye West abgelöst. Balzers Kapitel des postheroischen Manns, den er auch gleich noch als Heuchler tituliert, schließt genau da an, wo Diedrich Diederichsen mit seiner theoretischen Abhandlung Über Pop-Musik aufhörte. Nämlich im 21. Jahrhundert, das nach Diederichsen durch die Ablösung des heroischen durch das post-heroische Zeitalter geprägt ist.

Balzer macht das an ein paar Beispielen fest, die sich aus einer Vielzahl von Konzertbesuchen, SoundCloud-Studien und Interviews speist. Der Pop-Kritiker ist viel unterwegs in den Konzerthallen und auf Dancefloors der Stadt. Die Buchpräsentation im Prachtwerk sollte erst eine Plauderei unter Männern werden. Da haben die Programmverantwortlichen wohl noch mal kurz nachgedacht, und statt des omnipräsenten Berliner Kulturstaatssekretärs Tim Renner, sitzt nun die nicht minder kompetente Journalistin, Pop-Kritikerin und Buchautorin Jenni Zylka an Balzers Seite, was schon mal einen kleinen farblichen Kontrapunkt zum ganz in Schwarz gekleideten Bartträger setzt. Ansonsten ein eher netter Schlagabtausch unter Kollegen, der niemandem wirklich wehtat.

Zylka hat dem Autor eine Auswahl an Texten aus seinem Buch zum Vorlesen gegeben, was zu einer kleinen ironischen Anekdotenparade aus Balzers Konzertbesuchen gerät. Es geht um die satanischen Lärmpriester Sunn O))), wobei u.a. auch über die Aussprache des kryptischen Bandnamen philosophiert wird, um die launige Demontage eines Céline-Dion-Konzerts und die Untoten des Pop wie Art Garfunkel, der sich mit seinem Sohn einen neuen Gesangspartner geklont hat.

Nicht fehlen darf natürlich ein Bericht über ein Konzert von Helene Fischer, der „mega-eklektischen Multimediakünstlerin“, die nach Balzer „die Geburt des nihilistischen Postfeminismus“ eingeläutet hat. Balzer lässt sich in seinem Buch auch lang und breit über neue weibliche Pop-Ikonen wie Adele, Rihanna oder Lana Del Rey aus. Ihr Erscheinen steht seiner Meinung nach in Zusammenhang mit dem Niedergang des dominanten Rock-Maskulinismus der letzten Heroen des Pops wie The Strokes und The Libertines mit ihrem abgestürzten Frontmann Pete Doherty.

Auch Kurt Cobain kommt da nicht gut bei weg, dessen zur Schau gestellte Männlichkeit mit schlaffem Genital auch nur ein Schrei nach der Mama war. Das klingt schon stark nach psychopathologischem Befund, in den sich Kapitel wie „die erotischen Probleme der Digital Natives“ oder „hermaphroditische Backenhörnchen auf Metamphetamin“ gut einreihen. Auf Jenni Zylkas Frage, ob nicht schon die Musik von Bands wie Led Zeppelin ein Schrei nach weiblicher Liebe waren, oder wohin nun mit aller „heroischen Feminität“, wenn hinter den Kulissen des Popgeschäfts weiterhin Männer die Fäden ziehen, hat Jens Balzer keine konkrete Antwort parat und empfiehlt lieber die genauere Lektüre seines Buchs. Auch eine gekonnte Art der Promotion, wobei sich das gesponserte Festival ja sonst eher um die ungeliebte Vermarktungsproblematik der Pop-Musik herumdrückt.

Wieder in die Praxis angelangt, kann man schon feststellen, dass die sogenannten Digital Natives bei ihren Technokonzerten schon recht autistisch auf ihren Turntables herumschrauben und männliche Erotik - etwa bei der Präsentation des Soundtracks zum ersten eigenen Film der New Yorker Liars im SchwuZ - eine eher untergeordnete Rolle spielt. Der Sound waberte unentwegt elektronisch vor sich hin, da ist man doch als Zuschauer schon ganz froh, wenn beim Konzert von Immersion Malka Spigel und Ex-Wire Colin Newman beim psychedelischen Klängefrickeln mal kurz schmunzelnde Blicke über den Tisch austauschen und im Hintergrund ein echtes Schlagzeug mit Special Guest Ronald Lippok den Beat dazu schlägt. Analogue Creatures heißt dann auch ihr neues Werk.

Wenn der digital erzeugte Sound bei der Pop-Kultur auch deutlich im Vordergrund stand, haben einige Jungs und Mädels ihre Gitarren doch noch nicht weggeworfen. Etwa die französische Musikerin Flora Fishbach mit ihrem fröhlichen Elektro-Pop, oder Nicholas Wood vom US-amerikanischen Industriel-Duo KVB. Begleitet von seiner Partnerin Kat Day am Synthesizer ließen sie am Freitag in Huxleys Neuer Welt den britischen 80th-Indierock und Post-Punk á la Joy Divison und New Order auferstehen. Das hätte Ex-Dark-Wave-Fan Balzer sicher gut gefallen.

Nach dem fulminanten Auftritt des elektronischen Springteufelchens Nika Roza Danilova von Zola Jesus zeigte dann noch der Vater aller Lärmjugend, Thurston Moore, wo die E-Gitarren wirklich hängen. Der Ex-Mastermind der legendären Sonic Youth gastierte mit klassischer Begleitband als Headliner des Abends im Huxleys. Allerdings hat Vati eine neue Mutti am Bass. Kim Gorden schreibt nun lieber autobiografische Bücher wie A girl in a band oder spielt in kleinen deutschen Genrefilmen wie Der Nachtmahr. Ansonsten ist alles beim alten. Klangteppiche aus sägenden Gitarren und Feedback-Gewitter zu psychodelischen Videos mit wachsenden Pilzen.

Die sexuelle Aura des Gitarren-Rockers scheint ebenfalls ungebrochen, wie einige weibliche „I loved you“-Rufe bezeugten. Eine junge Frau konnte sich gar nicht mehr einkriegen, was natürlich genauso gut am kreisenden Joint gelegen haben könnte. Sicher auch ein Plus bei Jens Balzer, der, weil er im SchwuZ nicht gleichzeitig rauchen und trinken durfte, dem Pop-Kultur-Festival in der Berliner Zeitung Spießigkeit vorgeworfen hatte. Hugs gab es nur für die Bassistin, ausgiebig feiern ließ sich Thursten Moore dann aber doch. Das Publikum wippte und nickte zustimmend im Takt der Gitarren. Da scheint trotz „postkoitaler Tristesse“ die männliche Pop-Welt noch in Ordnung.

----------

Zuerst erscheinen am 04.09.2016 auf Kultura-Extra.

Pop-Kultur Berlin 2016
31.08. - 02.09.2016
In Neukölln

Infos: http://www.pop-kultur.berlin/

---

Jens Balzer | POP. Ein Panorama der Gegenwart
Hardcover, EUR 16,99
Rowohlt Verlag, 2016
ISBN 9783644122413

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Stefan Bock

freier Blogger im Bereich Kultur mit Interessengebiet Theater und Film; seit 2013 Veröffentlichung von Kritiken auf kultura-extra.de und livekritik.de

Stefan Bock

Was ist Ihre Meinung?
Diskutieren Sie mit.

Kommentare einblenden