Real Magic und Five Easy Pieces

Theatertreffen Vermeintlich kleine internationale Off-Theater-Produktionen von Forced Entertainment und Milo Rau begeistern beim 54. Theatertreffen in Berlin

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Am vierten Tag wurde das 54. Theatertreffens der 10 bemerkenswertesten Inszenierungen aus dem deutschsprachigen Raum mal wieder international. Die Jury hat die britische Experimentaltheatertruppe Forced Entertainment mit ihrer europa- und amerikaweiten Koproduktion Real Magic nach Berlin eingeladen. Mitproduziert hat auch das Hebbel am Ufer, wo diese kleine Perle der Performancekunst, die im Mai 2016 im PACT Zollverein Essen Premiere hatte, schon im letzten Juni zu sehen war. Sie ist natürlich in englischer Sprache. Eine sonst übliche Übertitelung würde sich hier verbieten, da das Spiel der 1984 in Sheffield gegründet Künstlergruppe unter der Leitung von Tim Etchells ähnlich wie Monty Python von ihrem britischen Mutterwitz lebt.

Forced Entertainment verbinden Schauspiel mit Installation, Performance, digitaler Medienkunst und Film, passen also bestens ins Programm der diesjährigen 10er-Auswahl, die nach Abzug der aus schon erwähnten Gründen nicht beim Theatertreffen gezeigten Räuber- und Schimmelreiter-Inszenierungen aus München und Hamburg zum größten Teil multimedial oder anderweitig Genre-übergreifend daherkommt. Selbst die dröge Glashaus-Assemblage Drei Schwestern von Simon Stone aus Basel ist mehr Mikroport-tönende Bild-Klang-Installation als herkömmliches Sprechtheater.

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Gesprochen wird bei Real Magic eigentlich auch recht viel, aber eben auch pausenlose 90 Minuten in Schleife. Der Plot ist schnell erzählt. Die drei Akteure Jerry Killick, Richard Lowdon und Claire Marshall performen eine absurde Game-Show, in der ein Spieler mit verbundenen Augen erraten muss, an was für ein Wort ein zweiter Spieler gerade denkt und auf einem beschriebenen Schild sichtbar hochhält. Vom Spielleiter, der an einem Mikrofonständer zwischen den beiden steht, bekommt der Rater dafür drei Versuche. Im Wechsel werden Schilder mit den Worten "Caravan", "Algebra" oder "Sausage" hochgehalten. Natürlich geht dabei die Wahrscheinlichkeit, dass der eine Spieler die Gedanken des anderen errät, gegen Null. Mit an Irrsinn grenzender Penetranz wird erst "Electricity", dann "Hole" und schließlich "Money" als Lösung angeboten.

Und so scheitern dann auch alle drei immer wieder im ständigen Wechsel, ein ums andere Mal. Dass dies nicht langweilig wird, liegt am virtuosen Spiel der Performer, die alle Register ihres Könnens ziehen. Es entspinnt sich ein irrwitziger Reigen aus Rollen-, Kostüm- und Tempowechseln, gemischt mit Slapstick, Elementen der TV-Comedy und des schräges Kabaretts mit von der Konserve eingespielten Lachern. Eine Persiflage auf die Unterhaltungsindustrie mit ihren billigen Rate- und fragwürdigen Zauber-Shows, aber auch eine Kritik am Sinn und Unsinn eines Lebens im Loop.

Natürlich ist in erster Linie Samuel Beckett, der Meister des theatralischen Scheiterns, ein Vater des Gedankens, das moderne Leben auf eine sinnlose Gameshow zu reduzieren. Die drei ziehen sich immer wieder gelbe Hühnerkostüme über, vollführen einen albernen Chicken-Dance als Pauseneinlage und beginnen ihr sinnloses Tun trotzt beständigem Scheitern immer wieder von vorn. Aber so sehr sich der eine auch anstrengt und der andere ihm das Schild schon vor die mittlerweile nicht mehr verbunden Augen hält, die Anweisung des Showmasters „Think harder!“ führt nur zu komischen Verrenkungen. Selbst mehrmaliges Nachfragen und schließlich Einflüstern hilft nicht.

Letztendlich bleibt die Antwort immer die falsche. Scheitern, Wechsel und Neubeginn sind vorprogrammiert. Tiefer führende Gedanken an politische Verkrustung, ans ständige Wegschauen und alternativlose Weitermachen werden dem Spiel im Programmheft impliziert. Sogar Grenzschließungen und Brexit angeführt. Wer mag, kann in den pantomimischen Einlagen und Wortspielen wie „Hole in the Pocket“ oder „The whole World“ danach suchen. In Real Magic spiegelt sich die Tragik des Lebens in der Komödie. Und diese gibt es hier satt und relativ unverkopft, was für einen frischen Wind auf dem Theatertreffen sorgt und in seiner unverkrampften Leichtigkeit eine durchaus bemerkenswerte Magie ausstrahlt.

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Mit Five Easy Pieces vom Schweizer Theatermachers Milo Rau gab es auf dem an performativen Formaten nicht armen Theatertreffen eine weitere ziemlich bemerkenswerte Inszenierung. Rau hat dabei (wie sooft in seinen Stücken) zu einer wahren Begebenheit, hier zum Fall des belgischen Kindermörders Marc Dutroux, recherchiert und lässt das Material in einer Form des reflektierenden Reenactment szenisch performen. Die Besonderheit ist diesmal, dass er dafür sieben belgische Kinder im Alter von 8 bis 14 Jahren besetzt hat, die angeleitet vom Schauspieler Peter Seynaeve den Stoff in einer Art gespieltem Probenprozess erarbeiten.

Wie immer geht es Rau dabei natürlich auch um das Medium Theater selbst. Schon mit dem vorangestellten nachgespielten Casting befragt der Regisseur - hier stellvertretend durch Peter Seynaeve - seine Methode der Darstellung. So sollen die Kinder, die dabei nacheinander vorgestellt werden, erzählen, was sie am Theaterspielen interessiert, welche Rollen sie gern übernehmen wollen, oder sie führen kleine Kostproben ihres Können wie Klavier- und Akkordeonspiel oder Tanz- und Gesangseinlagen vor. Immer dabei ist die obligatorische Livekamera, deren Bilder auf einen großen Videoscreen übertragen werden. Die Kinder und ihre Vorstellungen bleiben so im direkten Fokus.

Man merkt sofort, dass den Kindern Theaterspielen nicht fremd ist. Milo Rau kooperiert für Five Easy Pieces mit dem Theater CAMPO Gent, das schon seit Jahren mit Kindern Theater für Erwachsene macht. Die Frage steht trotzdem im Raum und wird auch diskutiert, ob der Regisseur hier nicht Kinder für seine Ziele ausbeutet. Eine moralische Frage, der man sich nicht ganz entziehen kann, und die in den einzelnen Spielszenen auch immer mitschwingt. Eine weitere Gedankenebene zieht Rau mit der Thematisierung der belgischen Kolonialvergangenheit ein. In einem ersten Video wird von erwachsenen Schauspielern die Feier zur Entlassung des Kongo in die Unabhängigkeit gespielt. Die Szene wird von den Kindern in Kostümen parallel reenactet und gesprochen. Rau nutzt die Parallelität der geschichtlichen Ereignisse zur Kindheit Dutroux‘, der im Kongo als Sohn eines Soldaten aufwuchs, um zwei Geschichten unaufgearbeiteter Vergangenheit zu beleuchten.

Rede und Ermordung des ersten Ministerpräsidenten des Kongo, Patrice Lumumba, sowie die Ereignisse um die späteren Kindermorde Marc Dutroux‘ sind für Rau doppeltes Trauma eines Landes, in dem die Bilder beider Männer jedem Kind präsent sind. In einem vor Livekamera nachgespieltem Interview erzählt Maurice Leerman, der unbedingt geschminkt einen alten Mann darstellen wollte, als Dutroux‘ Vater dessen Geschichte. Und so steigen die Kinder immer wieder in die Rollen von Polizisten, die den Tatort begehen und vor der Kamera über die Ermittlungen und deren politische Pannen berichten, oder die der Eltern eines der entführten Kinder, wenn sie davon erzählen, wie sie die Nachricht des Todes ihrer Tochter erfahren haben.

Das sind natürlich hochemotionale Momente, die allerdings dadurch gebrochen werden, dass (wie am Filmset) Takes wiederholt werden oder gar ein Tränenstift zum Einsatz kommt. In kleinen Runden zwischendurch reflektieren die Kinder zusammen mit ihrem Regisseur über den Tod, das Töten oder die Trauer. An seine Grenzen gerät das Format, wenn die erst 8jährige Rachel Dedain den Brief eines entführten Mädchens aus ihrem Kellerverlies vorliest und Peter Seynaeve die sich schämende Rachel auffordert, sich wie verabredet bis auf die Unterwäsche auszuziehen. Die Problematik von Macht und Ohnmacht bleibt hier immer präsent. Letztendlich zeigt aber die Souveränität, mit der die Kinder ihre Rollen ausfüllen, dass ihnen die Konfrontation mit der Wahrheit zumutbar ist.

Den Titel Five Easy Pieces hat Milo Rau den Klavierstücken für Kinder von Igor Strawinsky entlehnt. Thematisch umkreist er sein Rechercheobjekt Dutroux in fünf als Proben angesetzten Übungen für Theater mit den Überschriften: Vater und Sohn, Wunschtraum Schauspieler, Versuch über die Unterwerfung, Allein in der Nacht und Was sind Wolken. Im letzten Kapitel erzählt Polly Persyn die Geschichte eines Marionettentheaters, deren Puppen noch nie Wolken gesehen haben und erst nach der Pleite des Theaters ohne ihre Fäden auf der Müllkippe erstmals den Himmel sehen. Eine schöne Parabel auf die Ambivalenz von Abhängigkeit und Freiheit. Raus Theater verbindet hier auf wundersame Weise das kathartische Spiel mit dem epischen Theater Brechts, indem es die Kinder ihre Sicht der Dinge und die Darstellbarkeit des vermeintlich nicht Darstellbaren vorführen lässt. Man bleibt davon nicht unberührt. Milo Rau bekam nach der Festival-Premiere am 13. Mai in den Sophiensalen für seine Inszenierung den 3sat-Preis überreicht. Eine durchaus vertretbare Entscheidung.

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Zuerst erschienen am 15.05.2017 auf Kultura-Extra.

Real Magic (HAU 2, 09.05.2017)
Idee und Konzept: Forced Entertainment
Künstlerische Leitung: Tim Etchells
Lichtdesign: Jim Harrison
Design: Richard Lowdon
Produktionsmanagement: Jim Harrison
Mit: Claire Marshall, Richard Lowdon, Jerry Killick
Koproduktion: PACT Zollverein, Essen / HAU Hebbel am Ufer, Berlin / Künstlerhaus Mousonturm Frankfurt / Tanzquartier Wien / ACCA Attenborough Centre for the Creative Arts, University of Sussex / Spalding Gray Consortium - On the Boards, Seattle / PS122 NYC / Walker Art Center, Minneapolis / Warhol Museum, Pittsburgh
Die Uraufführung war am 04.05.2016 im PACT Zollverein Essen
Dauer: 1 Stunde 20 Minuten, keine Pause

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Five Easy Pieces (Sophiensæle, 13.05.2017)
von Milo Rau und Ensemble
Regie: Milo Rau
Bühne und Kostüm: Anton Lukas
Video und Sound: Sam Verhaert
Dramaturgie: Stefan Bläske
Von und mit: Rachel Dedain, Maurice Leerman, Pepijn Loobuyck, Willem Loobuyck, Polly Persyn, Peter Seynaeve, Elle Liza Tayou, Winne Vanacker
Dauer: 1 Stunde 30 Minuten, keine Pause
Die Uraufführung beim Kunstenfestivaldesartes Brüssel war am 14. Mai 2016
Die Berlin-Premiere in den Sophiensælen war am 1. Juli 2016
Weitere Termine auf dem Theatertreffen: 20. und 21. Mai 2017 im Haus der Berliner Festspiele

Weitere Infos: https://www.berlinerfestspiele.de/de/aktuell/festivals/theatertreffen/...

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Stefan Bock

freier Blogger im Bereich Kultur mit Interessengebiet Theater und Film; seit 2013 Veröffentlichung von Kritiken auf kultura-extra.de und livekritik.de

Stefan Bock

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