Tarzan rettet Berlin

Premierenkritik Ein Chorprojekt nach den Tagebüchern von Einar Schleef im Rahmen des Festivals "Einar Schleef zum 75." im Berliner Hebbel am Ufer

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Nach den Feierlichkeiten zu Heiner Müller 90. Geburtstag gedenkt zumindest noch ein Berliner Theater eines Bruders im Geiste. Zum 75. Geburtstag von Einar Schleef hat das Hebbel am Ufer den roten Teppich ausgerollt. Der 2001 leider viel zu früh Verstorbene kann ihn allerdings nicht mehr überschreiten. Dafür lädt ein Kleinbus einen ganzen Chor junger PerformerInnen vor dem HAU 1 ab, die beschwingten Schritts zum Beifall des vor die Tür gebetenen Publikums über den roten Teppich laufen. Chöre sind ja bekanntlich die Spezialität des Theaterregisseurs Einar Schleef, der nebenbei auch noch Autor, Bühnenbildner, Maler und Fotograf war. Das Damenquartett Janina Audick (Bühne/Kostüm), Martina Bosse (Dramaturgie/Produktionsleitung), Brigitte Cuvelier (Choreografie) und Christine Groß (Chorregie) eröffnet mit dem Chorprojekt Tarzan rettet Berlin ein kleines Schleef-Festival. Grundlage sind Texte aus Schleefs Tagebüchern, von den Beteiligten selbst und der titelgebende Stückversuch, ein Frühwerk aus den 1970er Jahren, das den Untergang Ost- und Westberlins in einem braun/roten Sumpf aus Parolen und Ost-West-TV-Unterhaltung beschreibt.

Nachzulesen ist das im Tagebuch 1981-1998 [s. Buchcover o. re.] in das der seit seiner Kindheit bis zu seinem Tod Tagebuch schreibende Schleef später immer wieder Ergänzungen und kleine Texte einfügte, wie um die Lücken zu füllen, in denen der Theaterberserker und Romanautor keine Zeit dafür hatte. Erschienen sind vier Bände, beginnend 1953. Mit dem Jahr 1981 startet der Chortext des Abends, nachdem die PerformerInnen in roten Einheitssamtkostümen über einen langen, vom Rang den Theatersaal teilenden Laufsteg die Bühne betreten haben. „Ein Chor, der sich jeder Zuschreibung und Etikettierung entzieht“, wie es im Ankündigungstext heißt. Sprich, gendermäßig ziemlich queer gemischt ist. Wir erfahren von Schleefs Körperqualen, Niederlagen und Sprachtherapien des Stotterers, der nach einer eigenen Sprache für das Sprechen im Theater ringt.

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In Rücksprüngen geht es in die 1950er Jahre der schwierigen Kindheit Schleefs in Sangerhausen, die von Problemen mit Schule, Vater und Mutter, die Aufzeichnungen von ihm vernichten, oder Korrekturen in die Bücher eintragen, geprägt sind. Beschreibungen von Faschingsfesten, bei denen der Chor wieder über den Laufsteg defiliert, oder Schleefs Konfirmation, bei der sich der Leib Christi, Wein und echtes Blut von einem Biss in die Lippe mischen, wechseln mit Tagebucheintragungen von Schleefs ersten Erfahrungen in Westberlin Anfang der 1980er Jahre. Immer wieder enden seine Spaziergänge vor der Mauer. Schleef fühlt sich haltlos nicht dazugehörig: „Ich habe kein Deutschland gefunden.“ Kombiniert wird das mit einzelnen kurzen Solovorträgen, in denen sich die Beteiligten in individuellen Kostümen selbst als Außenseiter, keinem Geschlecht zugehörig, outen.

Hier verschmelzen Schleefs Erinnerungs-Text und die gemeinsame Identitätssuche des Chors. In Marsch- und aufgelösten Tanzchoreografien wird der Zwiespalt von Gemeinschaft und Individuum sichtbar. Es werden Fahnen geschwungen, melancholische Songs gesungen. Einzeldarbietungen wechseln immer wieder mit dem Sprechen im Chor, wie es Schleef mit seiner Intension „meine Sprache gegen die andere zu setzen“ meinte. Das erfolgt nicht immer in der archaischen Wucht von Schleefs Theaterprojekten, die die jungen PerformerInnen sicher nur vom Hörensagen kennen dürften. Aber als Versuch eines rückblickenden Abgleichs mit dem Heute ist dieser Abend durchaus frisch, wenn auch nicht immer stringent. Es endet in einem Wust aus geschredderten Spruchbändern. „Deutschland ist weiß“ heißt dazu der passende Text von Einar Schleef. Eine Schuld-„Weißwaschung“ der speziellen Art beim Blick aus dem Flugzeug hoch über dem noch geteilten Land.

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Zuerst erschienen am 12.01.2019 auf Kultura-Extra.

Tarzan rettet Berlin
Audick/Bosse/Cuvelier/Groß
Ein Chorprojekt nach den Tagebüchern von Einar Schleef
Im Rahmen von Einar Schleef zum 75.
Inszenierung: Janina Audick, Martina Bosse, Brigitte Cuvelier, Christine Groß
Chor: Jona Aulepp, Claudio Campo-Garcia, Maikel Drexler, Yasmin El Yassini, Sanni Est, KAy Garnellen, Kim Ley, Naomi Odhiambo, Marina Prados, Jayrôme C. Robinet, Nathalie Seiß, Julian Süss, Meo Wulf
Chorregie: Christine Groß
Choreografie: Brigitte Cuvelier
Bühne/Kostüm: Janina Audick
Dramaturgie/Produktionsleitung: Martina Bosse
Musikalische Leitung: Sacha Benedetti, Roman Ott
Komposition, Tinder Match: Sanni Est
Lichtdesign: Klaus Dust
Technische Leitung: Fabian Eichner
Künstlerische Produktionsassistenz: Jan Koslowski
Assistenz Bühne und Kostüm: Marlene Lockemann, Daniela Zorrozua
Filmdokumentation: Hannes Francke, Ute Schall
Bühnenbau: Lichtblick Bühnentechnik
Hospitanz: Josefin Willnauer
Kostümanfertigung: Lea Carreno, Imke Paulick
Text: Einar Schleef, Kim Ley, Maggie Nelson (Übersetzung Jan Wilm), Jayrôme C. Robinet
Aufführungsrechte: Suhrkamp Verlag Berlin, Hanser Berlin
Die Premiere war am 10.01.2019 im Hebbel am Ufer (HAU1)
Weitere Termine: 14., 15.01.2019

Infos: https://www.hebbel-am-ufer.de

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Stefan Bock

freier Blogger im Bereich Kultur mit Interessengebiet Theater und Film; seit 2013 Veröffentlichung von Kritiken auf kultura-extra.de und livekritik.de

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