Übermann oder die Liebe kommt zu Besuch

Premierenkritik Christoph Marthaler imaginiert am Deutschen Schauspielhaus Hamburg ein männerloses Paralleluniversum der Kunst

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Wer die Inszenierungen von Christoph Marthaler schon immer für etwas seltsam hielt, der wird sich erst recht über dessen neuen Abend am Deutschen Schauspielhaus Hamburg verwundern. Benannt hat ihn der Schweizer Regisseur Übermann oder die Liebe kommt zu Besuch. Inspiriert ist der Titel von dem fantastischen Roman Le Surmâle (zu dt.: Der Supermann) und dem Theaterstück L‘amour en Visites (zu dt.: Die Liebe auf Besuch) von Alfred Jarry, dem Vorläufer des absurden Theaters und als Dramatiker vor allem durch das Stück König Ubu bekannt. Viel hat der neue Marthaler aber nicht mit den genannten Werken von Jarry zu tun. Eher mit dessen Thesen von der sogenannten ’Pataphysik, einer Parawissenschaft, die sich vor allem mit imaginären Lösungen am Einzelfall und der Ausnahme von der Regel, sogenannten Epiphänomen beschäftigt. „Die ’Pataphysik steht zur Metaphysik so wie die Metaphysik zur Physik.“ Das klingt zunächst recht absurd. Es handelt sich hierbei aber auch um die Vorstellung eines künstlerischen Paralleluniversums, das an die Stelle der bekannten Welt treten könnte. Und damit sind wir ja direkt wieder im Theater als Ort von Imaginationen und Utopien.

Letztendlich lässt sich das, was Christoph Marthaler mit seinen Theaterinszenierungen betreibt, durchaus in diese Sparte einordnen, bewegt sich der Regisseur mit ihnen doch regelmäßig am Rande des Absonderlichen und Erklärbaren, jedenfalls immer weitab vom gängigen Mainstream. Wie weit man da mitgehen möchte, da scheiden sich regelmäßig die Geister. So auch beim Übermann, für den Marthalers Stammbühnenbildnerin Anna Viebrock wieder einen ihrer zeitvergessenen hohen Räume mit fahlen Wänden, an den alte Tapetenreste kleben, gebaut hat. Wir schauen auf einen Vorraum eines alten Kongresssaales mit Garderobentresen, an dem zunächst die Besucher der titelgebenden wissenschaftlichen Jahrestagung ihre Mäntel und Hüte abgeben, die von der bewährten englischen Marthalerdarstellerin und klassischen Sängerin Rosemary Hardy als strickende Garderobiere an imaginäre Kleiderhaken gehängt werden. Das erste also, was man sich vorstellen müsste, und so fallen die Kleidungstücke auch recht erwartbar zum Amüsement des Publikums an der Rampe zu Boden.

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Danach wird es plötzlich kurz dunkel und eine computeranimierte Stimme erklärt uns das Marthaler‘sche Paralleluniversum. Nicht nur der Titel des Abends muss aufgrund unerwarteter Ereignisse komplett eliminiert werden. Auch die männlichen Tagungsteilnehmer seien durch einen starken Sonnenwind, der den Magnetschild der Erde passiert hat, was zu Strom- und Funkausfällen führte, entmagnetisiert und der Gravitation enthoben in die Erdumlaufbahn entschwebt. Nur noch ihre Schuhe stehen auf dem Bühnenboden. Die Männer (Statisterie) befinden sich also im wahrsten Sinne des Wortes außer Reichweite. Dafür hat der Sonnenwind eine Gottheit aus dem Äther auf die Erde geweht, die sich in Gestalt von Musiker Clemens Sienknecht im seidenen Bademantel ans Klavier setzt und das Paralleluniversum der ’Pataphysik repräsentierend den ganzen Abend klassische Melodien von Bach, Beethoven, Cage, Satie, Schubert, Schumann und Wagner sowie Popsongs von Abba, den Kings und den Pretenders spielt. Dazu tritt eine achtköpfige Damenriege auf, zu der neben Rosemary Hardy noch Altea Garrido, Isabel Gehweiler (die auch auf dem Cello spielt), Sachiko Hara, Anja Laïs, Sasha Rau, Bettina Stucky und Gala Othero Winter gehören.

Rosemary Hardy beginnt den Reigen der eigenartigen Texte mit einem Auszug aus Gertrud Steins A Play Called Not and Now, einem Stück abstrakter, konkreter Literatur, das von Doppelgängern bekannter Männer wie Dashiell Hammett, Charly Chaplin oder Pablo Picasso berichtet. Ein Abend der experimentellen Sprache also, zu dem auch wunderbar ein Gedicht von Nora Gomringer, der Tochter des konkreten Lyrikers Eugen Gomringer (momentan Stein des Anstoßes an einer Berliner Hausfassade), passt. „Ich mache jetzt etwas mit der Sprache / Das wird ganz unerhört sein, was ich jetzt mache mit der Sprache / Da werden Sie staunen werden Sie da.“ trägt Clemens Sienknecht mit dem Klavier rauf- und runterfahrend vor. Das sorgt natürlich für Gelächter, geht aber doch über den blanken Nonsens hinaus. Einen ähnlichen Abend hat Herbert Fritsch mit der die mann an der Volksbühne (jetzt wieder an der Berliner Schaubühne zu sehen) gestaltet, nur das Christoph Marthaler nicht auf die Klamauktube drückt und diese Erwartungen auch ganz bewusst immer wieder unterläuft.

In gewohnt entschleunigter Manier tragen die Damen nun abwechselnd weitere absurde Texte von Ilse Aichinger, Gisela Elsner, Elfriede Gerstl, Gertrud Kolmar und auch von Alfred Jarry vor, der in Gestalt des französischen Schauspielers Marc Bodnar in passendem Radlerdress auftritt, wie eine Karikatur des Supermanns auf der Stelle in die Pedalen tritt, singt, oder von den Damen zum Gesellschaftstanz genötigt wird. Ansonsten passiert tatsächlich nicht allzu viel. Sideboards fahren rein und raus, Die Damen sitzen auf Barhockern, verfallen in schläfrige Starre, oder singen Choräle und schöne, sehnsuchtsvolle Ohrwürmer wie „I go to sleep, sleep /And imagine that you're there with me“. Bettina Stucky spricht mit einer Konservendose, Sasha Rau über eine im Weg liegende Schnecke, Anja Laïs über ihre Nase, Sachiko Hara über Familienleben und singt dazu Elfriede Gerstls Schlagertext „Ich möchte mit dir staubsaugen / ich möchte dich aufräumen / am silbernen Meer.” Gott Sienknecht philosophiert über Raum und Gegenwart und eine Maschine zur Erforschung der Zeit. Schön auch der gemeinsame Text Die Welt verlangt danach, gekontert zu werden von Ilse Aichinger.

Das ist sicher mehr als nur ein ironisch-feministischer Theaterabend. Die Frage, ob eine Welt ohne Männer vorstellbar ist, lässt sich sicher auch nicht nur einfach mit der Antwort: aber sinnlos kontern. Ob man damit etwas anfangen kann, hängt möglicherweise davon ab, ob man überhaupt bereits ist, zu imaginieren. Und wie heißt es im Stück so schön im besten Oxford-English: „In that case there are wonders.” und „Many wonders are women.“

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Zuerst erschienen am 20.03.2018 auf Kultura-Extra.

Übermann oder Die Liebe kommt zu Besuch
von Christoph Marthaler nach Alfred Jarry
Regie: Christoph Marthaler
Bühne: Anna Viebrock
Kostüme: Sara Kittelmann
Licht: Annette ter Meulen
Ton: Matthias Lutz, Christoph Naumann
Video: Marcel Didolff, Peter Stein
Dramaturgie: Malte Ubenauf
Cello: Isabel Kathrin Gehweiler
Es spielen: Marc Bodnar, Altea Garrido, Rosemary Hardy, Sachiko Hara, Anja Laïs, Sasha Rau, Clemens Sienknecht, Bettina Stucky, Gala Othero Winter, sowie: Rolf Bach, Renè Batista, Uwe Behrmann, James Bleyer, Niels Christenhuß, Tommasso DelDuca, Steffen Gottschling, Allan Naylor, Davide Pronat, Mohammad Sabra
Die Uraufführung war am 18.03.2018 im SchauspielHaus
Termine: 02., 18., 26.04.2018

Infos: https://www.schauspielhaus.de/de

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Geschrieben von

Stefan Bock

freier Blogger im Bereich Kultur mit Interessengebiet Theater und Film; seit 2013 Veröffentlichung von Kritiken auf kultura-extra.de und livekritik.de

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