Unsere Gewalt und eure Gewalt

Wiener Festwochen Der bosnische Theaterregisseur Oliver Frljić provoziert mit einer Paraphrase des Terrors inspiriert durch den Roman "Die Ästhetik des Widerstands" von Peter Weiss

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Unsere Gewalt und eure Gewalt

Bild: Alexi Pelekanos

Die Wiener Festwochen scheinen ihren ersten Skandal zu haben. Der bosnische Regisseur Oliver Frljić hat den Kritikern mit seinem neuen Stück Naše nasilje i vaše nasilje - Unsere Gewalt und eure Gewalt ein Stöckchen hingehalten, und sie sind erwartungsgemäß gesprungen. „Der bisherige Tiefpunkt der Saison.“, wird da u.a. getitelt. Die Inszenierung zeichne sich durch „Simplizität und Rohheit“, „das Bemühen zu schockieren“ sowie „den unangenehmen Geruch von Schulkabarett“ aus.

Was ist dran am Verriss? Im Grunde nicht viel. Nachdem Frljić sich in seinem für das Münchner Residenztheater entwickelten Stück Balkan macht frei schon mit Heiner Müllers kritischer Bearbeitung von Bertold Brechts Lehrstück Die Maßnahme auseinandergesetzt hatte, war es fast folgerichtig, dass er nun beim Schriftsteller und Dramatiker Peter Weiss und seiner Romantrilogie Die Ästhetik des Widerstands angekommen ist. Weiss befasst sich darin ausführlich mit den Debatten und Konflikten innerhalb des kommunistischen und antifaschistischen Widerstands zurzeit des Nationalsozialismus und deren Reflexion durch deutsche Künstler im Exil wie etwa Bertolt Brecht. Die große Frage, die der Roman aber aufwirft, ist die der Darstellbarkeit von Gewalt und Gräuel mit Mitteln der Kunst. Dazu beschreibt Weiss eine Vielzahl von Werken der Kunstgeschichte.

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Nun hat Oliver Frljić eine neue, kritische Art von Lehrstück vorgelegt. Man könnte es auch das Lehrstück von der unterlassenen Hilfeleistung nennen. Oder aber die verzweifelte Suche nach einem geeigneten künstlerischen Werkzeug, wie es der Ich-Erzähler in Weiss‘ Roman beschreibt, sprich einer Ästhetik des Widerstands gegen den alltäglichen Faschismus und Rassismus in Europa, der immer mehr in der Mitte der Gesellschaft Fuß fasst. Kunst als Mittel zum Kampf gegen oder zur Aufklärung über bestimmte gesellschaftliche Zusammenhänge - bei der Einsicht, dass angesichts von Faschismus und Terror „waffenlose Schöngeistigkeit einfachster Gewalt nicht standhalten kann“.

Heiner Müller nannte das „konstruktiven Defaitismus“. Philipp Ruch vom „Zentrum für politische Schönheit“ bezeichnet seine provokanten Aktionen, wie etwa den Europäischen Mauerfall, bei dem die deutschen Mauertoten mit den toten Flüchtlingen an den europäischen Grenzen gleichgesetzt werden, als „aggressiven Humanismus“, während der Schweizer Recherchetheatermacher Milo Rau von „zynischem Humanismus“ spricht, wenn er den Versuch der Europäer meint, z.B. mittels Onlinepetitionen die Welt zu retten. Peter Weiss sah auch nach dem Sieg gegen das faschistische Regime die Welt als geteilt. Faschismus und Kolonialismus haben ihre Spuren hinterlassen.

Das ist letztendlich auch der Ausgangspunkt für Frljić‘ Stück: Die aktuelle Flüchtlingskrise als Folge des kolonialen Erbes, an dessen Ursache Europa nicht ganz unschuldig ist. Und so hat der Regisseur für sein Projekt die mitwirkenden SchauspielerInnen der Esembles des Kroatischen Nationaltheaters in Rijeka und des Mladinsko Theaters im slowenischen Ljubljana mit einem Fluchthintergrund ausgestattet, die sie in einer schnellen Vorstellungsrunde vortragen und auch ein wenig ironisch ihre Zukunftsaussichten und den Stand der Integration reflektieren. Was folgt ist eine Kuschelrunde zum christlichen Weihnachtslied "Stille Nacht", bei der sich nackte multisexuelle Paare bilden, die sich auf den Körper gemalte arabische Schriftzeichen herunterwischen. Übrig bleibt eine Frau mit der traditionell muslimischen Kopfbedeckung, dem Hidschab, als sichtbares Zeichen des Andersseins. Als die Muslima dann eine kleine Österreichfahne aus ihrer Vagina zu Tage fördert und hisst, gehen die Blicke der anderen wohlwollend nach oben.

Oliver Frljić spielt christliche gegen islamische Ikonografie aus. Da darf natürlich auch ein Jesus nicht fehlen, der von einem Kreuz aus einer Wand von Benzinkanistern steigt, die Frau hinterrücks vergewaltigt und sich mit seinem rot-weißen Österreich-Lendentuch das Gemächt abwischt. Auf die Kanisterwand hatte zuvor ein Performer den Satz: DAS PETROLEUM STRÄUBT SICH GEGEN DIE FÜNF AKTE geschrieben. Das sind klare Schock-Bilder, die aber zunächst noch mit dem Roman von Peter Weiss wenig zu tun haben. Die Drastik, mit der Weiss aber Folterung und Hinrichtung von Mitgliedern der Widerstandsgruppe Rote Kapelle beschreibt oder von den Verhöhnungen und der Internierung der nach Frankreich geflohenen Spanienkämpfer und ihrer Familien berichtet, entwickelt Frljić nun analog in seinen Spielszenen, in denen einem syrischen Flüchtling bei einem Fest Alkohol und Schweinfleisch aufgezwungen werden. Auch der Text ist da an Zynismus nicht zu überbieten und könnte direkt aus einschlägigen Hassplattformen im Internet stammen.

Natürlich ist Peter Weiss‘ Mammutwerk, wie nun folgerichtig auch Frljić‘ Interpretation, nicht unumstritten. Man warf Weiss seitens der Literaturkritik vor, er habe "seine ästhetischen Maßstäbe und damit seine Identität als Künstler der politischen Parteinahme geopfert“. Und wie Heiner Müller anlässlich eines konspirativen Streitgesprächs mit Peter Weiss nach der DDR-Premiere von dessen Stück Viet Nam Diskurs am Berliner Ensemble berichtete, kritisierte man die politischer Haltung des Autors und dessen deutliches Bekenntnis zum Sozialismus mit den Worten: „Von Vietnam sprechen, heißt von Bautzen schweigen.“ Was heute natürlich wieder eine ganz andere Bedeutung bekommt.

In der Logik von Frljić bedeutet das in etwa, über Brüssel und Paris sprechen, hieße von Syrien, Irak oder Afghanistan schweigen. Schweigeminuten für beiderlei Opfer des Terrors baut der Regisseur dann auch in die Performance ein, nicht ohne ein provozierendes Fazit, dass wohl erst 4 Millionen Opfer in Europa den Frieden bringen würden. Nun heiligt der Zweck bei weitem nicht alle Mittel. Und die Hinrichtungsszenen, bei denen den PerformerInen in orangener Häftlingskleidung symbolisch der Hals durchgeschnitten wird, sind dann schon recht grenzwertig. Als Tote geben sie dann noch einige Statements ab, wie etwa, dass wer den Faschismus verurteile, ohne gegen Kapitalismus zu sein, sein Stück vom Kalb haben wolle, ohne es selbst zu schlachten. Die Bloßstellung des lettischen Regisseurs Alvis Hermanis, der sich gegen die Flüchtlings-Willkommenskultur des Thalia Theaters in Hamburg ausgesprochen hatte und eine Zusammenarbeit deswegen absagte, ist da geschenkt.

In Heiner Müllers Revolutionsstück Der Auftrag spricht Debuisson, der Sohn französischer Plantagenbesitzer: „Ich will mein Stück vom Kuchen der Welt. Ich werde mir mein Stück herausschneiden aus dem Hunger der Welt.“ Oder auch: „Die Welt wird was sie war, eine Heimat für Herren und Sklaven. Ich entlasse uns aus unserm Auftrag.“ Oliver Frljić führt dem österreichischen Publikum den Zusammenhang von ungerechter Wohlstandsverteilung recht drastisch vor Augen.

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Etwas anders gehen da Tom Kühnel und Jürgen Kuttner mit ihrer ebenfalls zu den Wiener Festwochen eingeladenen Inszenierung des Heiner-Müller-Klassikers Der Auftrag - Erinnerung an eine Revolution vor. Sie arbeiten sich im Sinne Müllers und mit dessen eigenen, vom Band gesprochenen Worten ganz konkret an den Vorstreitern und Ikonen vergangener Revolutionen ab. Auch hier sprechen natürlich die Toten zu den Lebenden in Gestalt von Karl Marx, Lenin, Rosa Luxemburg, Mao oder Che, und die drei Emissäre der französischen Revolution auf Jamaika, Debuisson, Galloudec und Sasportas, treten in den Farben der französischen Trikolore auf. Eine bunte Grand Guignol, bei der im Trick-Theater der Revolution die Papierköpfe von Danton und Robespierre rollen.

Man kann Frljić und seinem Stück nun kaum vorwerfen, sich ästhetisch nicht ausschließlich an der Historie abzuarbeiten, wie etwa Peter Weiss und Heiner Müller. Ein komplexes Fazit lässt sich trotzdem nur schwer ziehen. Vielleicht aber noch am ehesten mit den Worten Heiner Müllers, den Christoph Rüter zu Beginn seiner Filmdokumentation Die Zeit ist aus den Fugen zitiert: „Die Zeit der Kunst ist eine andere Zeit als die der Politik. Das berührt sich nur manchmal, und wenn man Glück hat, entstehen Funken.“ Die zünden, müsste man anfügen, hier in Wien leider nicht wirklich. Man wird sich anlässlich des Festivals „Die Ästhetik des Widerstands - Peter Weiss 100“, zu dem das Berliner HAU Frljić‘ Stück im September geladen hat, erneut darüber unterhalten können.

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Zuerst erschienen am 01.06.2016 auf Kultur-Extra.

NAŠE NASILJE I VAŠE NASILJE (Schauspielhaus Wien, 31.05.2016)
UNSERE GEWALT UND EURE GEWALT

Textadaption (nach Die Ästhetik des Widerstands von Peter Weiss): Oliver Frljić und Marin Blažević
Inszenierung: Oliver Frljić
Dramaturgie: Marin Blažević
Kostüme: Sandra Dekanić
Bühne: Igor Pauška
Licht: Dalibor Fugošić
Künstlerische Beratung: Aenne Quiñones
Regieassistenz: Barbara Babačić
Produktionsleitung: Hannes Frey
Mit: Barbara Babačić, Daša Doberšek, Uroš Kaurin, Dean Krivačić, Jerko Marčić, Nika Mišković, Dragica Potočnjak, Matej Recer und Blaž Šef
Auftragsarbeit und Produktion HAU Hebbel am Ufer, Berlin / Koproduktion der WIENER FESTWOCHEN mit Slovensko mladinsko gledališče, Ljubljana, Kunstfest Weimar, Zürcher Theaterspektakel, Hrvatsko narodno kazalište Ivana pl. Zajca, Rijeka

Weitere Infos siehe auch: http://www.festwochen.at

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Stefan Bock

freier Blogger im Bereich Kultur mit Interessengebiet Theater und Film; seit 2013 Veröffentlichung von Kritiken auf kultura-extra.de und livekritik.de

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