Victoria

Kino Ein atemloser Berlinfilm in einem Schuss von Sebastian Schipper

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http://blog.theater-nachtgedanken.de/wp-content/uploads/2015/06/Victoria_Filmposter.jpgBlaues Stroboskoplicht, der Beat hämmert, die Körper schwitzen. So steigt der Zuschauer in den neuen Film von Regisseur Sebastian Schipper (Absolute Giganten, Ein Freund von mir) ein. Eine junge Frau schärt aus der Menge, trinkt an der Bar, sucht Anschluss. Sie trifft am Einlass des Clubs auf die lauten Typen Sonne, Blinker, Boxer und Fuß (Frederick Lau, Burak Yigit, Franz Rogowski und Max Mauff), die großmäulig an der Tür scheitern. Fasziniert von der Ungeschliffenheit und dem rumpligen Kumpelgehabe der Vier lässt sich die titelgebende Victoria (Laia Costa) aus Madrid einfangen und schließt sich den Freunden mit Aussicht auf Party und mehr an. Zwar muss sie um 7 Uhr morgens ein Café um die Ecke aufschließen, aber das hat Zeit. Dass die ausgelassene Boys-Gang ebenfalls eine folgenschwere Verabredung hat, ahnt das Mädchen da noch nicht.

Mit wackeligem Englisch und der Wackel-Kamera von Sturla Brandth Grøvlen (Silberner Bär bei der Berlinale 2015) im Nacken, ziehen die Fünf ab vier Uhr morgens ihre Kreise durch das nächtliche Berlin, bis der Morgen graut und Gewissheit ist, dass nichts mehr so sein wird, wie es mal war. Von ausgelassenen Posen über zarte Annährungsversuche bis zum endgültigen Verlust der Unschuld in einem 136minütigen One-Shot-Take, ganz ohne einen erlösenden Schnitt. Der Beat angesagter Nachtclubs an der Grenze des hippen Kreuzberg zur Berlin-Business-Mitte schwappt auf die Straße und mischt sich mit dem Soundtrack der Underdogs. Die Zugezogene erliegt dem Charme aus Herz und Schnauze. Der Funke glimmt erst aus der Flasche, die Neugier facht das zarte Flämmchen immer wieder an. Dem ersten Gang zum Späti folgt der nächste auf die Dächer über der Stadt, bis der Trip in einer Tiefgarage endet und immer noch nicht wirklich zu Ende ist.

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Victoria - Foto © Senator Film

Waltzing Mephisto

Mitgegangen, mitgefangen…! Der Film ist Traum und Alptraum einer Nacht im Adrenalin- und Drogenrausch. Gleichermaßen Euphorie und Ernüchterung für Protagonisten wie Zuschauer. Die Spannung steigt im gefühlten Minutentakt. Zum Atemholen geht die Kamera nur hin und wieder wie in einer Slowmotion zu den meditativen Sounds von Nils Frahm kurz in den Standby. Dann eilt sie weiter, den durch die Nacht Treibenden hinterher. Vom Club-Hopping über die lässige Kumpel-Tour bis hin zum harten Genrestreifen, Victoria rutscht - vor der Enttäuschung des Madrider Konservatorium nach Berlin geflohen - immer tiefer mit hinein. Liszts Mephisto-Walzer im Café ist nur die Ouvertüre für den nachfolgenden Tanz, den keiner so richtig beherrscht. Wobei zunächst noch unklar scheint, wer hier Faust und Mephisto oder der Tod und das Mädchen ist. Erst unfreiwilliger Beifang vom Wegesrand („Wir müssen Boxer einen Gefallen tun.“), mutiert Victoria irgendwann zur coolen Driving-„Bitch“ eines Fluchtwagens.

Sebastian Schipper hat seinen überbordenden Berlin-Plot gut gecastet und konsequent gegen den Strich besetzt. Frederick Lau gibt als Sonne mal nicht den stiernackigen
Grübler (Ummah - Unter Freunden), Burak Yigit klopft als cooler Blinker nicht nur Sprüche sondern auch mal das Herz in den Hals, und Franz Rogowski ist nicht mehr der schüchterne Masseur auf Rügen (Love Steaks). Als knastgestählter Boxer treibt er die Bande unentwegt an. Das Max Mauffs Fuß nach einer guten halben Stunde schon aus dem Tritt gerät, fällt da kaum ins Gewicht. Kurz nur ist man versucht einen Gedanken darauf zu verschwenden, was geschehen hätte können, wenn Sonne und Victoria den neuen Morgenüber den Dächern Berlins oder bei einer Tasse Kakao im Café und nicht als Bonny-und-Clyde-Verschnitt erlebt hätten. Aber das wäre dann wohl auch ein anderer Film. Was dieser wert ist, zeigt sich in immerhin sieben Nominierungen für die deutsche LOLA. Auch so ein atemloser Run.

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Victoria (Deutschland 2015)

136 Minuten

Regie: Sebastian Schipper

Drehbuch: Sebastian Schipper, Olivia Neergaard-Holm, Eike Frederik Schulz

Kamera: Sturla Brandth Grøvlen

Schnitt: Olivia Neergaard-Holm

Kostüme: Stefanie Jauss

Ton-Design: Magnus Pflüger

Make-up: Maitie Richter

Musik: Nils Frahm

Mit: Laia Costa, Frederick Lau, Burak Yigit, Franz Rogowski, Max Mauff, André Hennicke u.a.,

Kinostart war am 11. Juni 2015

Infos: http://www.wildbunch-germany.de/movie/victoria

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Geschrieben von

Stefan Bock

freier Blogger im Bereich Kultur mit Interessengebiet Theater und Film; seit 2013 Veröffentlichung von Kritiken auf kultura-extra.de und livekritik.de

Stefan Bock

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