WOLFSFRIEDEN

Theater, Performance Dominique Wolf bespielt mit ihrem Theater Wolfsbühne die Cuvry-Brache in Berlin-Kreuzberg.

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Ein Operndorf ganz nach Christoph Schlingensiefs Idee wollte die Schauspielerin und freie Theaterregisseurin Dominique Wolf auf der Cuvry-Brache in Kreuzberg für einen Abend errichten. Ein Dorf am Ufer der Spree, das viele nur als erste Favela Berlins bezeichnen. Künstler, Aussteiger, Obdachlose, polnische Wanderarbeiter und Roma-Familien leben hier aus den unterschiedlichsten Gründen seit etwa zwei Jahren nebeneinander, in Zelten und selbstgebauten Hütten ohne Strom, Wasser und sanitären Einrichtungen. Den meisten Kreuzberger Anwohnern ist das freie Dorf ein Dorn im Auge, der Fortbestand latent bedroht von der Räumung durch einen Investor, der das Gelände irgendwann mal bebauen will. Bis dahin sind die Cuvryaner geduldet. Man kennt das noch vom Kulturhaus Tacheles in der Oranienburger Straße. Die Probleme sind da also fast schon vorprogrammiert.

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Die Cuvry-Brache in Berlin-Kreuzberg war Operndorf für einen Abend - Foto: St. Bock

„Welcome in FreeCuvry“ und „See it with your eys“ steht auf einem Schild am Eingang. Regisseurin Wolf, die 2010 die Wolfsbühne gründete, will mit ihren alternativen, spartenübergreifenden Theaterprojekten sozialkritische Themen aufgreifen und geht dafür mit ihrem Team immer wieder direkt in den Stadtraum. Mit WOLFSFRIEDEN bespielt sie nun die Cuvry-Brache, einen Ort der ganz anderen Wohnkultur, fern jeder geordneten Struktur und Absicherung, ohne Garantie und doppelten Boden. Zwei Monate lang hat Dominique Wolf vor Ort bei den Bewohnern um Akzeptanz für ihre Idee geworben und um Mitwirkung bei der Durchführung ihres Vorhabens.

Das Ergebnis konnte nun am Samstag, den 26. Juli ab 18:30 Uhr von Interessierten und Freunden unkonventionellen Theaters für den Unkostenbeitrag von 10 Euro besichtigt werden. Das Eintrittsgeld soll den Bewohnern der Cuvry-Brache zu Gute kommen. Wolf will aber durch ihr Projekt vorrangig Aufmerksamkeit für die Lage der Leute vor Ort erzeugen, Kunst als Mittel zur Verständigung für ein friedliches Miteinander der verschiedenen Gruppen mit den Anwohnern des Kreuzberger Kiezes. Kernstück dieses Vorhabens ist eine große gedeckte Tafel, an der gegessen, getrunken und geredet werden soll. In einigen der Behausungen der Cuvryaner gibt es außerdem kleine Spielszenen mit echten Schauspielern und auch Bewohnern der Brache.

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Regisseurin Dominique Wolf mit Bewohnern und Besuchern an der großen "Königstafel" - Foto: St. Bock

Das Ganze ist wie ein kleiner Parcours aufgebaut, den das Publikum in Gruppen immer wieder durchlaufen kann. Die Schauspieler performen teilweise in oder auch vor den kleinen Holzhütten, die sich im vorderen Teil des Areals in einem etwas verwilderten Wäldchen befinden. Wer nicht aufpasst, tritt hier aber auch in sorgsam angelegte Beete. „Folgen Sie mir, bitte folgen Sie mir." Der freundlich bestimmten Aufforderung Wolfs kann man sich nur schwer entziehen. Man ist ja schließlich auch gekommen, um zu schauen. Die anfangs noch empfundene Scheu vor dem ungewohnten bewohnten Ort weicht schnell der Neugier. Und so wagen sich die bereits erschienen Besucher gegen 19:00 Uhr endlich zuversichtlich auf die erste Runde.

Man stößt im märchenhaften Gestrüpp auf kurze Performances, die sich um den „König des Dorfes“, das „Tal der Traurigkeit“, die „Melancholie“, „Wahre Liebe“ oder „Befruchtung“ drehen. Vor allem sollen hier natürlich die Zuschauer selbst befruchtet werden. Mit Kunst zum Kern der Sache. Es geht im Großen und Ganzen um die vielfältigen Spielarten zwischenmenschlicher Beziehungen, um Kreativität und das Anderssein. Ein vom Fruchtbarkeitsterror seiner Frau genervter politischer Schönredner findet sein wahres Glück einfach in der Nachbarhütte. Die Schauspielerin Miriam Ternes erzählt eine wundersame Liebesgeschichte über eine am Tinitus leidende Frau, die nicht nur den Hörnerv des Publikums trifft. Der chilenische Tänzer Danilo A.S. Cofre zeigt eine eigene Choreografie und berichtet den Umstehenden von seinem Inspirationserlebnis mit Pina Bausch.

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Der chilenische Tänzer Danilo A.S. Cofre - Foto: St. Bock

In einer Hütte muss eine junge Sopranistin einem alternden Impresario (Günther Schanzmann) eine Koloraturarie in der Waagerechten vorsingen, einige Sträucher weiter sitzt die Venus 2013 im Schaumbad und bringt ihren Othello-haften Verehrer zur Verzweiflung. Trotz heftigstem Streit ist doch die Liebe immer wieder das alles verbindende Element. Auch wenn sich sicher nicht alles auf diese einfache Formel herunterbrechen lässt, bleibt dies die wichtigste Botschaft des Abends.

Über Lautsprecher werden O-Ton-Beiträge der Cuvryaner eingespielt, die über ihr Leben auf der Brache berichten. Und als sich die ersten Besucher bereits an die große Tafel setzen wollen, gibt die Tänzerin Elsa Loy noch eine grandiose Schleiertanz-Vorstellung. Der Abend schließt aber am Spreeufer ab mit einer echten Operneinlage auf einem kleinen Boot. Kristin Schulze, die Sopranistin aus der Hütte vorher, hat ihr Engagement an Bord angetreten und singt noch eine bezaubernde Arie mit überraschendem Schlusspunkt. Begeisterter Beifall für alle Beteiligten.

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Magischer Schleiertanz mit Elsa Loy - Foto: St. Bock

Die Blicke schweifen noch einmal von der Brache übers Wasser. Sie ist ein sogenanntes Filet-Grundstück in bester Lage. Der Ausblick könnte auch besser nicht sein, links die Oberbaumbrücke, am gegenüberliegenden Ufer das Gebäude von Universal Music. Die Media-Spree als drohende Alternative hat man also stets vor Augen.

2012 war noch durch linke Gentrifizierungsgegner ein Denklabor, das sog. BMW-Guggenheim-Lab, auf der Brache verhindert worden. Bei verschiedenen Veranstaltungen sollten hier Themen der Stadtentwicklung diskutieren werden. Die Veranstalter zogen wegen des Sicherheitsrisikos schließlich auf das Gelände des Pfefferbergs im Prenzlauer Berg. Befürchtungen der Kiezaufwertung, steigende Mieten, etc., etc. - das alles ist nichts Neues für Berlin. Die Anwohner wollten nicht zur Kiezattraktion werden. Nun ist man es letztendlich doch. Die Touristen kommen in Scharen, um das alternative Berlin-Feeling zu spüren, und machen Fotos fürs Facebookalbum. Die Belange und Probleme der Be- bzw. Anwohner der Cuvry-Brache interessieren da eher am Rande.

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Die Sopranistin Kristin Schulze mit Koloraturarie auf der Spree - Foto: St. Bock

Wie sich die Cuvryaner ihre Zukunft tatsächlich vorstellen, könnte man am 2. August bei einem „Tag der Offenen Cuvry“ erfahren. Fakt ist, die Gentrifizierung ist im Kiez um das Schlesische Tor längst angekommen. Massen von Feier- und Sensationswütigen belagern allabendlich die Kneipen und Restaurants in der Schlesischen Straße. Die Betreiber leben davon und sind bestrebt ihre Geschäftsgrundlage dauerhaft zu schützen. Wie es damit nach dem vom Investor geplanten Bau der „Cuvryhöfe“ aussieht, wird sich zeigen. Das Ruhebedürfnis geplagter Städter hat schon ganz andere Gebiete dauerhaft befriedet.

Gefragt sind nun in erster Linie der Bezirk Kreuzberg/Friedrichshain und auch das Land Berlin, das die Bebauungshoheit der attraktiven Lücke an sich gezogen hat. Nur ist von dort zum Thema bisher nicht allzu viel zu hören. Sich öffnen, ist eine der Losungen der Operndorfaktion WOLFSFRIEDEN. Damit das keine hohle Phrase oder schöne Utopie bleibt, bedarf es mehr als ein paar wohlmeinender, vermittlungsbereiter Theaterleute.

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Samstag, 2. August: Tag der Offenen Cuvry
FreeCuvry lädt alle ein zu Musik, Essen, Trinken, Bootsbau, Fluss und Strand, Massage, Führungen und vieles mehr, ab 13h.
16-18h: Offene Diskussion mit Anwohner_innen und Bewohner_innen
Ab 19h Praxisworkshop
Ab 20h: Filmgucken auf Leinwand und Party!

Weitere Infos zu FreeCuvry unter:
http://freecuvry.wordpress.com/ oder https://www.facebook.com/CampCuvrystrasse

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siehe auch http://blog.theater-nachtgedanken.de/

WOLFSFRIEDEN

auf der Cuvrybrache, Schlesischestr./ Cuvrystr,

Premiere war am 26.07.2014

Regie: Dominique Wolf

mit:

Adrian Zwicker, Édes Anna, Sonja Amina Chatterjee, Daniela Frezzato, Elsa Loy, Gregor von Holdt, Grete Gehrke, Oliver Schulz, Marie-Louise Stoffel, Günter Schanzmann, Kristin Schulze, Harald Polzin, Danilo Andres Sepulveda Cofre, Miriam Ternes, Ronja Seifert, Bibaki Mou, Lutz Rothe, Daniel Matz, Candy Bormann u.a.

Infos Wolfsbühne unter: http://wolfsbühne.de/ und

https://www.facebook.com/pages/Wolfsb%C3%BChne/444179992280660?ref=ts&fref=ts

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Stefan Bock

freier Blogger im Bereich Kultur mit Interessengebiet Theater und Film; seit 2013 Veröffentlichung von Kritiken auf kultura-extra.de und livekritik.de

Stefan Bock

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