Erzählen statt Beschreiben

WAHLDEUTSCHER Neue Literatur zu dem streitbaren Marxisten Leo Kofler

Zum ersten Mal seit dreizehn Jahren ist wieder eine Sammlung mit Aufsätzen des - wie es im Untertitel heißt - marxistischen Einzelgängers Leo Kofler (1907 bis 1995) erschienen. Die Freude über dieses Ereignis wird jedoch sogleich getrübt durch die Entdeckung, dass sich - angesichts eines fast vollständig vergriffenen Werks höchst ärgerlicherweise - gut ein Viertel der nun vorliegenden Texte mit über den Buchhandel noch lieferbaren überschneidet. Dass man dem Autor damit, ungewollt, ein Armutszeugnis ausstellt, indem der fatale Eindruck erweckt wird, es gäbe von ihm kaum Substantielles, das sich nachzudrucken lohnte, scheint dem Herausgeber gar nicht bewusst geworden zu sein. Die von ihm verfasste Einleitung ist ohnehin ein Kapitel für sich: In ihr feiern sämtliche Klischees beziehungsweise "Phrasen" (Kofler) der "Neuen Linken" fröhliche Urständ', ohne dass die echten, gravierenden Probleme des Sozialismus auch nur mit einer Silbe zur Sprache kämen.

So hat Christoph Jünke offenbar resolut das falsche Schwarzbuch verinnerlicht: das des Monsieur Courtois, welches die Arbeitslager in der Sowjetunion abstrakt als das schlechthin Böse brandmarkt, statt desjenigen des Herrn Kurz, in welchem, mit Marx, Warenproduktion und Marktwirtschaft konkret als Quell allen Übels analysiert werden. (Dass Kofler, was diesen "harten Kern" der marxistischen Theorie betrifft, leider erhebliche Defizite aufzuweisen hat, sei hier, von einem seiner Verehrer, zumindest angemerkt.) Gedankenlos ist es auch, Trotzki in die wohlfeile Galerie der Märtyrer von Rosa Luxemburg bis Che Guevara einzureihen - hat Jünke schon einmal von Kronstadt gehört? Überhaupt scheut er den Namen Lenins wie der Teufel das Weihwasser. Aber schließlich will ja Jünke Kofler unbedingt dem sogenannten "westlichen Marxismus" zuschlagen, der sich die Finger nicht schmutzig zu machen brauchte - an der Geschichte. Doch da unterläuft ihm, aus Ignoranz, ein arger faux pas: Denn diese Bezeichnung, die einst einen guten Sinn hatte, indem sie primär diejendigen Denker meinte, welche sich, als Nicht-Kommunisten, dem frühen Lukács, von 1923, philosophisch (nicht politisch) anschlossen - also vor allem die "ursprüngliche" Frankfurter Schule (Adorno und Marcuse) -, hat noch weitere klare Implikationen, die auf Kofler gerade nicht zutreffen. Die wichtigste davon ist die positive Einschätzung der künstlerischen Avantgarde, der "klassischen Moderne". Andererseits bezieht der "westliche Marxismus" eine eher negative Stellung zum Patriotismus. Genau umgekehrt verhält es sich bei Kofler. Sogar Jünke kommt nicht umhin zuzugeben, dass Kofler mit seiner Verwerfung der "großen Dekadenz" von Kafka bis Beckett und seinem Insistieren auf "Erzählen" statt "Beschreiben" etliche "68-er" verprellte: Tatsächlich ist es ein (heilsamer) Schock, jetzt nachlesen zu können, dass Sartre als Dramatiker wenig mehr wert sei als die niveaulosen Elaborate der Stalin-Ära. Auch was die "nationale Frage" angeht, war Kofler ein getreuer Schüler von Georg Lukács. Der hatte, gemeinsam mit Johannes R. Becher, stets Front gemacht gegen den "Kosmopolitismus" (heute würde man sagen: die "Europa-Idee"), mit dem zum Beispiel Ernst Bloch und Bertolt Brecht sympathisierten. Insofern ist der österreichische Jude Kofler durchaus als "Wahldeutscher" zu klassifizieren. Versuche, die Erinnerung daran zum Schweigen zu bringen - so geschehen auf einem Bochumer Kongress am 1. Mai 2000, als ein brillanter junger Altphilologe, promovierter Philosoph und Wiener Genosse Koflers zu jenem Thema referierte -, nutzen nichts, denn der Verstorbene hat sich eindeutig geäußert.

Neben dem Anthropologen und Ästhetiker Kofler begegnet man hier auch dem Historiker der bürgerlichen Gesellschaft sowie dem Industriesoziologen. Letzterer beeindruckt besonders mit seiner Diagnose der "sterbenden Zeit", des "Grauens" am Fließband. Kollege Oskar Negt beglückwünschte ihn damals zum siebzigsten Geburtstag voller "Bewunderung für Deinen aufrechten Gang". Zu solcher Unbeirrbarkeit gehört jedoch auch - was viele nicht wahrhaben wollen - Koflers Weigerung, sich bequeme anti-autoritäre Scheuklappen anpassen zu lassen. Diese würden nämlich unter anderem verhindern einzusehen, dass eine "Humanisierung der Arbeitswelt" innerhalb des Kapitalismus (und sei er sozialdemokratisch aufpoliert) prinzipiell nicht möglich ist - was durch den "Anschluss" der Ex-DDR, die nachfolgende "lean production" (verschlankte Produktion) bei Opel in Eisenach et cetera vollauf bestätigt wurde.

Zur Kritik bürgerlicher Freiheit. Ausgewählte politisch-philosophische Texte eines marxistischen Einzelgängers. Hrsg. von Christoph Jünke im Auftrag der Leo-Kofler-Gesellschaft e.V., VSA-Verlag, Hamburg 2000, 240 S., 29,80 DM

Vergeistigung der Herrschaft. Der Staat als Ensemble des Verhältnisses von Intelligenz, Bürokratie und Elite; Gesellschaft und Elite zwischen Humanismus und Nihilismus, 2 Bände, Materialis Verlag, Frankfurt am Main 1986 und 1991

Die Nation - Zukunft und Verpflichtung. Gedanken zum Tag der deutschen Einheit. Hrsg. von Frank Thomas Gatter, Nienburger Hefte zum 17. Juni, Nienburg an der Weser 1987

Geistiger Verfall und progressive Elite. Sozialphilosophische Untersuchungen, Germinals Verlag, Bochum 1981

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