Terror: Medien auf Standby

Boston Erst die massenmediale Berichterstattung über Terroranschläge erfüllt deren Ziel: Die Verbreitung von Angst und Schrecken. Ohne Medien funktioniert Terror nicht

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Mit dem Hinweis auf „Terrorerinnerungen“ und „Terrorängste“ leitet ARD-Anchorman Tom Buhrow mit „Wie sind Ihre letzten Informationen?“ am 15. April eine Liveschaltung nach Washington ein. Korrespondentin Tina Hassel kommentiert die Explosionen von zwei Bomben beim Marathon in Boston: „...entsprechend nervös berichten hier auch die ganzen großen Networks. Was man bislang gesichert weiß, ist wenig. Zwischen den beiden Explosionen lagen nur zehn Sekunden. […] Über Hintergründe kann man noch überhaupt nichts sagen. Vizepräsident Joe Biden auf jeden Fall hat jetzt vor wenigen Minuten von einem Anschlag gesprochen.“

Aktualisierungszwang?

20 Minuten später wird in der gleichen Sendung erneut nach Washington geschaltet. „Bitte, bringen Sie uns auf den neuesten Stand“, bettelt Buhrow um Neuigkeiten aus Amerika. Neue Bomben seien gefunden worden, die Stimmung im Land sei angespannt. Mit den Worten „Wir erinnern uns alle“ wird ein Bogen zu 9/11 gespannt und nach der Wahrscheinlichkeit weiterer „Anschlussanschläge“ gefragt. Die Sicherheitsvorkehrungen seien verstärkt worden, noch sei alles ungewiss. So endet die Berichterstattung über Boston in den Tagesthemen.

Viel neues gibt es nicht zu berichten, aber berichtet werden muss trotzdem. Massenmedien gieren nach laufenden Updates, jede kleinste Neuigkeit wird aufgenommen und so schnell wie möglich weiterverbreitet. Es geht schließlich darum, das erste Medienunternehmen zu sein, das eine Information hat und dem Publikum an den Kopf wirft, möglichst exklusiv und aktuell. Doch ist es nicht manchmal besser weniger zu berichten, anstatt sich in Gerüchten und Spekulationen zu verlieren?

Luhmann über Zeitdruck in Redaktionen

Der Soziologe Niklas Luhmann beschreibt diesen Aktualisierungszwang in seinem Werk „Die Realität der Massenmedien“ als grundlegendes Problem des heutigen Mediensystems. Kommunikation habe primär ein Zeitproblem zu lösen, und das gelte vor allem für die unter Beschleunigungsdruck operierenden Massenmedien. Diese leisteten einen erheblichen Beitrag zur Realitätskonstruktion der Gesellschaft, was durch laufende Reaktualisierung der Selbstbeschreibung der Gesellschaft geschehe. Die Digitalisierung des Mediensystems und die Konkurrenz zwischen den Medienkanälen- und Formaten führten zu noch mehr Zeitdruck, worunter auch die Recherche leide.

Luhmann weist darauf hin, dass für Nachrichten nicht der Code wahr/unwahr, sondern der Code Information/Nichtinformation gelte. Für Nachrichten und Berichte sei es nicht besonders wichtig, dass die Unwahrheit ausgeschlossen werden kann, bevor Wahrheit behauptet wird. Das Grundproblem dieses Verhaltens liege bei den Selektionsmechanismen wie „Überraschung, Konflikte, Quantitäten, lokaler Bezug, Normverstöße, Aktualität und Meinung, schlussendlich verstärkt und verschleiert durch organisatorische Schablonen und Programme, die in einem scheinbaren „Nachrichtenwert“ resultieren.“

Sind unter Zeitdruck weiterverbreitete Nachrichten noch etwas wert, wenn die Recherche leidet?

Multiplikatoren des Schreckens

Journalisten beobachten und kommunizieren Terrorakte in einer sehr subjektiven Weise: Bei der Einschätzung ihrer Relevanz geht es nicht um den real angerichteten Schaden, der sich in Form von Verletzten- und Todeszahlen messen ließe, sondern um die wahrgenommene Bedrohung, meint Focus-Nachrichtenredakteurin Andrea C. Hoffmann in einem Standardwerk zur Praxis der Kriegs- und Krisenberichterstattung von Martin Löffelholz.

Aus der Sicht von Terroristen bemesse sich der Erfolg eines Terroraktes nicht aus einem hohen Personen- oder Sachschaden, sondern aus dem emotionalen Effekt, der von diesem Schaden ausgeht. Ob und inwiefern ein Anschlag also dem Ziel nützlich ist, das Gefühl von Angst und Schrecken möglichst weit zu verbreiten. Die Wahl des Schauplatzes, die Opferzahlen oder das Ausmaß der Grausamkeit des Vorgehens diene fast ausschließlich dem Ziel, Aufmerksamkeit (von den Medien) zu erzeugen – so Hoffman weiter.

Ausschlaggebend ist die Anzahl der Menschen, die sich in Folge des Anschlags subjektiv bedroht fühlen. Die mediale Berichterstattung über einen terroristischen Anschlag entscheidet über den Radius, in dem Terroristen das Gefühl einer solchen Bedrohung verbreiten.“

Ohne Massenmedien würde moderner Terrorismus also nicht funktionieren. Bei der Verbreitung der Schreckensnachrichten arbeiten Terroristen und Journalisten Hand in Hand. Es hat sich herumgesprochen, dass Medien nach automatisierten Regeln funktionieren, und so versuchen Terroristen, diese für eigene Zwecke zu instrumentalisieren – weshalb Anschläge immer perfekter auf mediale Wahrnehmungsraster zugeschnitten und inszeniert werden. Auf der anderen Seite reagieren Medienmacher auf Terrorismus weitgehend unreflektiert und reflexgesteuert, fasst Hoffmann die Beziehung zwischen Terror und Massenmedien zusammen.

Medienterror?

Bei Terroranschlägen schaltet das westliche Mediensystem spätestens seit dem Jahr 2001 sofort auf Dauerberichterstattung und Sondersendungen um. Zumindest dann, wenn der Anschlag in einem westlichen Land erfolgt. Über alle Kanäle hinweg wird das sensationsdurstige Publikum mit Gerüchten und Halbwahrheiten bombardiert – auch wenn es nicht will. Dabei ist vor allem die Frage interessant, was stattdessen berichtet werden könnte.

Niemand berichtet zum Beispiel darüber, dass bei beinahe jedem Drohnenangriff in fremden Ländern mindestens so viele Menschen sterben wie beim Anschlag in Boston. Niemand berichtet dauernd über die deutschen Waffenlieferungen in Krisengebiete. Und niemand berichtet Tag und Nacht über das gleichgerichtete westliche Mediensystem, von gefährlichen Meinungsmonopolen oder die vom Aktualisierungszwang zerschossene redaktionelle Praxis. Vielleicht hat unsere Gesellschaft noch zu wenig Angst davor.

In den nächsten Tagen wird uns bestimmt ein Sündenbock oder eine schuldige Gruppe für die Marathon-Bomben präsentiert. Für die Halbwahrheiten, die im aktuellen Berichterstattungs-Marathon verbreitet werden, müssen jedenfalls die Redaktionen geradestehen.

Unter Zeitdruck leidet die Recherche, damit die Berichterstattung und damit wiederum die Glaubwürdigkeit der Massenmedien. Hauptsache, es gibt etwas zu berichten. Alle Medien auf Standby.

Zum Schluss bleibt mal wieder eine Frage stehen: Cui bono?

Zitierte Quellen:

Löffelholz, Martin/Trippe, Christian F./Hoffmann, Andrea C. (2008): Kriegs- und Krisenberichterstattung. Ein Handbuch. Konstanz 2008.

Luhmann, Niklas (2009): Die Realität der Massenmedien. 4. Auflage, Wiesbaden 2009.

Tagesthemen vom 15.4.2013, URL: http://www.youtube.com/watch?v=MuZsC4pPAzE, Stand: 16.04.2013.

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Geschrieben von

Stefan G. Meier

Blogger, Texter, Social Internetzler und Promoter. Aufgewachsen in den Alpen, Studium in Wien. Lebt seit 2012 in Deutschland.

Stefan G. Meier

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