Drei Personen stehen vor einem Haus und unterhalten sich. Eine vierte tritt durch eine Tür hinzu, eine ältere Frau mit einem Handwägelchen, wie Rentner sie zum Einkaufen nehmen. Vor der Tür, schon auf der Straße, steht ein Lehnstuhl neben einer etwas altmodischen Stehlampe. Im Zentrum des Bildes befindet sich ein Herr im Anzug. Er scheint etwas zu erklären. Mit seiner linken Hand rechnet er etwas vor. In der anderen hält er eine Art von Broschüre. Die beiden anderen, ein junges Paar, hören ihm zu. Die Frau hat ihre Hände hinterm Rücken verschränkt und trägt eine Einkaufstasche, wie man sie in Kleidergeschäften bekommt.
Der Künstler Jan Peter Hammer hat diese Szene in einem Bronzerelief von 91 mal 107 Zentimetern Größe festgehalten. Sein Titel: Gedenktafel für die Verlierer der Wiedervereinigung. Auf der Kunstmesse Art Berlin Contemporary wurde es im September erstmals gezeigt, mit einer erstaunlichen Wirkung. Obwohl von den Maßen vergleichsweise klein, und obwohl die Arbeit in einer Ecke hing und nicht prominent beleuchtet war, wurde sie von sehr vielen Besuchern bemerkt. Aus etwas Distanz wirkte die Bronze wie ein brauner Block. Wer sich ihr näherte, kam nicht umhin, die Szenerie genauer zu betrachten. Das Motiv erzählt seine Geschichte in einer filmischen Anordnung. Zwei Handlungen laufen parallel. Im ersten Moment wirkt die Ausführung naiv, nicht glatt und professionell, wie es heute üblich ist, wenn Künstler ein Werk nur entwerfen, um es dann in Auftragswerkstätten in beliebiger Perfektion herstellen zu lassen.
Die Aufholjagd läuft
Jan Peter Hammer hat seine Bronzeskulptur selbst in Ton modelliert, wohl wissend, dass manches Detail am Ende etwas unbeholfen wirken mag. Von seinem polnischen Ateliernachbarn hat er sich erklären lassen, wie man die Drahtschleifen für ein Relief bindet. Bronzeplastiken gehören normalerweise nicht zu seinem Repertoire, bekannt ist Jan Peter Hammer für seine Filme, darunter Anarchist Banker, die Umsetzung einer Short Story des portugiesischen Schriftstellers Fernando Pessoa. Weder Reliefs noch das Material Bronze gelten in der Gegenwartskunst als sonderlich attraktiv. Lieber bretzeln Gegenwartskünstler in letzter Zeit ihre mit 3D-Printern ausgedruckten und vorher eingescannten Objekte mit Hochglanzlacken auf, die machen sich abfotografiert auch gut auf Webseiten.
Die Idee für das Motiv kam dem Künstler bei einer nachmittäglichen Fahrt durch ein westliches Stadtviertel. Hier und da standen Herren mit einer Exposémappe, Wohnungs-Makler in Erwartung ihrer Kunden. Der Berliner Wohnungsmarkt hat in den letzten Jahren unter den deutschen Städten den rasantesten Aufstieg hingelegt. Zwar bleibt noch Luft, bis Verhältnisse wie in London oder Paris herrschen, wo Normalsterbliche sich Wohnungen im Zentrum nicht mehr leisten können. Wer dort nicht am Boom der Finanzwelt teilhat, wohnt entweder fernab des Zentrums oder in Behausungen von der Größe eines Schranks. Aber Berlins Aufholjagd zum Metropolenstatus läuft.
Die Umgestaltung der Stadtviertel betrifft mehr als nur die Architektur. Sie greift in das Leben der Bewohner ein. Dass damit, wie man es so ausdrückt, soziale Härten einhergehen, ist bekannt, aber das Wort sagt wenig über die Geschichten hinter dem Soziologendeutsch. Jan Peter Hammer lebt in Prenzlauer Berg, wo der soziale Wandel in den letzten Jahren am gründlichsten gegriffen hat. Eine ganze Reihe von Ereignissen und Geschichten kennt er aus eigener Erfahrung.
Als er einen Freund besuchte, kam der Künstler eher zufällig bei einer Wohnungsbesichtigung vorbei. Ein Herr im Morgenmantel saß etwas verstört in seiner Wohnung, während der Makler diese einer Kundin anpries, nicht ohne auf den Zustand des Mannes hinzuweisen. Erst seit ein paar Tagen sei er aus dem Krankenhaus zurück, wo er wegen seiner Herzprobleme in Behandlung war. Mit Herzfehler im dritten Stock ohne Aufzug, das sei ja doch sehr ungünstig. Zumal im Alter von 86 Jahren, obwohl er danach nicht aussehe. Darauf erkundigte sich die Interessentin noch einmal beim Mieter: 86? Wirklich?
Eine andere Anekdote erfuhr er von einer befreundeten Hausgemeinschaft. Die Wohnung einer älteren Frau stand zum Verkauf. Diese hatte in dem Haus noch das Ende des Kriegs miterlebt, wusste noch, wer in der Nachbarschaft ausgebombt war. Einige Tage nach dem Verkauf fragte sie ein Nachbar im Treppenhaus, wie es gelaufen sei. Ein Münchner Investor habe ihre Wohnung gekauft, meinte sie erleichtert. Sie könne dort bleiben, habe er zugesichert. Aber die Angst stand ihr ins Gesicht geschrieben.
In einem anderen Fall hatte eine Maklerin einem Kunden beteuert, die jetzige Mieterin sei bereits auf der Suche nach einer neuen Wohnung. Als der potenzielle Käufer sich bei der Besichtigung erkundigte, warum sie denn weg wolle, erhielt er die panische Antwort: „Ich ziehe hier nicht aus.“
Beim jüngsten Höhenflug am Wohnungsmarkt handelt es sich nicht um ein deutsches oder lokales Berliner Phänomen. Der Preisanstieg ist eine direkte Folge der globalen Wirtschaftskrise und der dagegen ergriffenen Maßnahmen. Weltweit flüchten Vermögen in scheinbar stabile Anlagewerte. Je teurer Immobilien werden, desto größer das Interesse, die Hürden für weitere Preissteigerungen zu schleifen. Mieter gelten nur noch als Renditehemmnis. Lieber lässt man Wohnungen leer stehen, wie es in den teuersten Gegenden Londons der Fall ist. Schon melden Städte wie New York oder Paris Probleme, die unterbezahlten Arbeiter in den prekären Dienstleistungssektoren, ohne die eine Stadt schlicht nicht funktioniert, überhaupt unterzubringen.
Dass die Preise für Wohnraum seit Jahren steigen, ist ein wirtschaftspolitisch gewollter Effekt. Man spricht hier nicht von Inflation, wie man es beim gleichen Anstieg von Lebensmittelpreisen tun würde. Altmieter sind Altlasten. Das Eigentum am Wohnraum, so konnte man gerade kürzlich wieder in einer großen deutschen Zeitung lesen, werde in Deutschland zu gering geachtet. Wer eine Wohnung kaufe, müsse doch damit tun können, was ihm beliebt. Gerade in einer Mieterstadt wie Berlin führt das zu neuen sozialen Separationen. Nun zählt nicht mehr, ob sich einer die Miete leisten kann, sondern ob genug Vermögen für die Finanzierung der Wohnung vorliegt. Eine alte Klassengrenze bricht neu auf.
Ohne Schlacht und Bomben
Auf dem Weg von seiner Wohnung zum Atelier kommt Jan Peter Hammer tagtäglich an einem Kunstwerk vorbei, ohne das er nicht auf die Form des Bronzereliefs verfallen wäre. Gegenüber den Schönhauser Arkaden, einem Einkaufszentrum an der Schönhauser Allee in Prenzlauer Berg, wurde 1986 ein fünfteiliges Relief des Bildhauers Günter Schütz angebracht. Im Stil eines späten sozialistischen Realismus, als die offizielle Staatskunst schon wieder zur hohlen Geste geworden war, bildet es Szenen vom Ende des Zweiten Weltkriegs ab. Eine Tafel zeigt den Wasserturm in Prenzlauer Berg, heute Prime Real Estate. Ein anderer Teil zeigt sehr idealisiert einen russischen Soldaten, der Bewohnern eines Hauses aus ihrem Bunker hilft. Wer damals als Kind befreit wurde, wird heute als Pensionär vertrieben. Aus dieser ganz direkten Verbindung folgt die Konsequenz, die Szene unserer Gegenwart im gleichen monumentalen und Ewigkeit versprechenden Material einer Bronze darzustellen.
Ganz ohne Schlacht und ohne Bomben wird das Leben eines Viertels umgekrempelt und dem neuen Regime der Hausbesitzer und Investoren unterworfen. In seiner sozialen Wirkung ist dieser Wandel nur einem Großereignis wie einem Krieg oder der Wiedervereinigung vergleichbar und daher wohl einer Gedenktafel würdig. Nur liegen in diesem Fall alle sozialen Rollen um das Werk herum quer. Es zeigt keine Helden, sondern nur Profiteure und Opfer. Die Gedenktafel sucht Käufer, die es nicht gibt, denn weder Hausbesitzer noch Bürgermeister werden dieses Vorgangs gern gedenken. Am liebsten sähe der Künstler das Bronzerelief an einem der renovierten Altbauten im Prenzlauer Berg angebracht, deren Bewohner in den letzten Jahren vollständig ausgetauscht wurden.
Stefan Heidenreich ist Autor mehrerer Bücher, darunter Was verspricht die Kunst?
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