In der Sackgasse

Musik Alles verläuft wie erwartet, nur die Spannung fehlt. Zum Berliner Jazzfest
Ausgabe 45/2015
In der Sackgasse

Bild: Archiv/der Freitag

Der Jazz sei nicht tot, schrieb vor Jahren Frank Zappa, mit Jazz-gemäßem Material liebäugelnd. Er röche nur komisch. Ach so, aber warum riecht man dann so wenig? Die alljährlich im deutschen Herbst grassierende Jazz-Festival-Epidemie mit ihrer Karawane von Musikern, die von Den Haag über Montreux nach Leverkusen und dann weiter nach Hamburg und Berlin ziehen, scheint dem Jazz so langsam die Luft abzudrehen. Natürlich werden da Höchstleistungen geboten, akrobatisch, instrumental- oder klangtechnisch. Sicher, da kommen die bekannt kompetenten, alten Herren und spielen ihre Musik. Auch die Zuschauer strömen in Massen, entrichten ihren Obolus und wollen die Musik hören, die sie erwarten. Und der Jazz klingt auch ganz genau so, wie man es seit Jahrzehnten gewohnt ist.

Alles verläuft wie erwartet, und so fehlt eben nur die Spannung, die entsteht, wenn man noch nicht weiß, was geschehen wird. Der Jazz ist mutiert: Was einmal lebendige Produktion war, musikalische Erfindung aus dem ungesicherten Moment heraus, ist heute risikoloses Abspulen antrainierter Muster, Reproduktionen, Kunstmusik. Folgerichtig wird die aktuellste Jazzwelle, die derzeit in den US-Medien beschworen wird, getragen von jungen Musikern im Kielwasser von Wynton Marsalia: Sie geben nicht mehr die Street-University als ihre Lehrstelle an, ihr Handwerk haben sie auf Jazz-Colleges gelernt, von denen es in den USA mittlerweile reichlich gibt. Der neue Aspekt, den sie in die Jazz-Musik hineintragen, ist neben der verblüffenden technischen Qualität ihrer Epigonalität vor allem ihr jugendliches Alter und das völlige Fehlen jenes Eigensinns, den man sonst mit Jugend verbindet. Jazz als klassische Kunstmusik bedeutet auch, dass die live gespielte Musik zugleich ihre technische Reproduktion ist.

Eine Sackgasse, die, außer dem Publikum, das genau die Markenartikel geboten bekommt, für die es bezahlt hat, alle Beteiligten verspüren. Selbst George Gruntz, der seit langen Jahren der künstlerische Leiter des Berliner Jazz-Festes ist und der immer wieder mit dem Vorwurf ästhetischen Konservatismus bedacht wurde, spricht von einer Zeit des musikalischen Stillstandes, gegen die sich sicher schon irgendwo im Verborgenen eine Klang-Revolte anbahne. Ein Mann mit Hoffnung. In der Zwischenzeit dokumentiert er mit seinem Festival die Stagnation und präsentiert die ganz großen amerikanischen Namen, die Carla Bleys, Dizzy Gillespies, McCoy Tyners oder Pat Methenys als Zugpferde in der Philharmonie und lässt dort auch europäische Kapellen wie die Orchester Klaus Königs oder Alexander von Schlippenbachs spielen, die mit ihren eher konzeptionellen, der modernen E-Musik abgelauschten Arbeitsweisen die FriedeFreudeEierkuchen-Harmonie ein wenig aufbrechen sollen. Als unerwünschte Dreingabe in einem klassischen Kombi-Angebot bleiben diese eigenwilligen Orchester nur marginal. Ebenso randständig wie die Veranstaltungen, die nachmittags und am späten Abend, nach den Hauptkonzerten, im Delphi, einem schönen Kino mit Club-Atmosphäre, stattfinden. Aber was wirklich zählt beim Jazz Fest Berlin, sind die Big Names in der Philharmonie und nichts anderes.

Weil Berlin nicht nur ein Jazz-Fest und eine Philharmonie hat, sondern auch ein quicklebendiges kleines Schallplatenlabel, das sich von Anfang an die experimentelle improvisierte Musik auf die Fahnen geschrieben hat und deshalb regelmäßig Meetings und Workshops von Musikern dieser Richtung organisiert, gibt es seit 23 Jahren neben dem Jazz Fest das „Total Music Meeting“ und damit einen Ort für radikale, suchende Musik, der in diesem Jahr erstmalig finanziell und organisatorisch in das Jazz Fest integriert ist. Bis weit in den Morgen hinein starten hier vor allem europäische Musiker ihre Ausflüge ins Reich des Ungehörten. Nicht mehr das brachiale Ausbrotzen früherer Jahre ist das Thema, sondern die Suche nach neuen Wurzeln, nach einer „imaginären Folklore“ wie es der französische Klarinettist Louis Sclavis ausdrückt, eine der herausragenden Persönlichkeiten der aktuellen improvisierten Musik. Hier, in der dichten Atmosphäre eines Kinos unweit der Philharmonie, ist noch etwas zu spüren von den Beziehungen zwischen Musik, Musikern und Publikum. Hier fängt die Musik wieder an zu riechen.

Dieser Text erschien am 9. November 1990 in der ersten Ausgabe des Freitag

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