Das Vergängliche ist ohne Zweifel

Entwender Das Leben und Sterben der Wörter nach dem Tode Jean Baudrillards (1929-2007)

Schon den Beginn der wissenschaftlich-publizistischen Karriere Jean Baudrillards markierte das Motiv des Todes. Die Phänomenologie der Dingwelt, die er in seinem 1968 erschienenen Werk Das System der Dinge vornahm, beginnt mit einer interessanten These: Während Gebrauchsgegenstände wie Mode, Möbel oder Technik in immer schnellerem Wechsel kommen und vergehen, stabilisieren sich daran die Individuen und die Gesellschaft. Das Todesmotiv zieht sich wie ein roter Faden durch sein gesamtes Denken bis hin zu seinem letzten Buch, den Paßwörtern (2002), in dem er die zentralen Begriffe und Konzepte noch einmal zusammenfasst und verbindet. Hier steht der Tod als "Tod der Begriffe" (nicht nur) im "Schluß-Wort": "Denn wenn Begriffe sterben, dann sterben sie eines natürlichen Todes, wenn ich so sagen darf, indem sie von einer Form in eine andere übergehen - was immer noch die besten Art des Denkens ist."

Jean Baudrillard, der den Tod stets mitgedacht hat, ist am 6. März im Alter von 77 Jahren gestorben. Er hinterlässt der Kultur- und Philosophiegeschichte ein Werk, das überaus einflussreich war, das zum Widerspruch aufgefordert hat, Debatten und scharfe Polemiken nach sich zog, das aufgrund des besonderen Stils seines Autors und der Vielseitigkeit der Analysen offen geblieben ist und doch - mit den Paßwörtern - eine Geschlossenheit wie kaum ein anderes Denkgebäude vorweisen kann.

Es sind die Begriffe selbst, jene "Paßwörter", welche Baudrillard uns hinterlässt. Begriffe, die er ihren ursprünglichen und konventionalisierten Gebrauchsformen entwendet und aufgrund ihrer metaphorischen Kraft für seine theoretischen Konzepte fruchtbar gemacht hat. Den Begriff des Politischen münzt Baudrillard etwa um zur "Transpolitik", die die zunehmende Entpolitisierung der Politik beschreibt, zum Beispiel die Annäherung von Rechts- und Linksideologien an die pragmatisch-politische Mitte oder die totale (und damit überflüssige) Politisierung des Alltags durch die political correctness. Die von Baudrillard umgewendeten Begriffe müssen künftig nun auch in seinem Sinne mitgedacht werden. Das kennzeichnet sie aber weniger als die Terminologie eines Denkers denn als intellektuelles Gemeineigentum. Baudrillard und vielen anderen (vor allem französischen) Philosophen des 20. Jahrhunderts ist es zu verdanken, dass durch das Entwenden der Wendungen von ihren Ursprüngen Spezialdiskurse ihre vermeintliche Deutungshoheit einbüßten.

Das letzte und verzweifelte Auflehnen gegen diesen Missbrauch hat nur einmal mehr unterstrichen, wie wichtig diese Entfremdung von naturwissenschaftlichen Terminologien für die Freiheit des Denkens gewesen ist. Ein Denken, das - wie bei Jean Baudrillard - dekonstruktiv zum Geschehen in der Welt Stellung bezogen hat. Mit dem auf diese Weise gewonnenen Begriffsinstrumentarium gelang es Baudrillard, zu einem der scharfzüngigsten Analytiker der politischen und kulturellen Gegenwart zu werden: Mit den Paßwörtern verschaffte er sich Zugang zu den unterschiedlichsten Diskursen in Wissenschaft, Kunst und Politik.

Bevor Baudrillard zu einem der bislang konsequentesten Anwender der Derrida´schen "Dekonstruktion" wurde, beschäftigte er sich - gleichsam als Vorarbeit - mit der politischen Ökonomie. Während seiner Assistenzzeit bei Henri Lefèbvre, wo er 1968 eine Professur in Soziologie annahm, widmete er sich einer Neuinterpretation des Marxismus unter dem Paradigma der Zeichentheorie. Sein Ziel war es, die politische Ökonomie an den "Linguistic Turn", also die Interpretation der Welt als Sprachphänomen, anzuschließen und die Marx´schen Wertgesetze semiotisch so umzudeuten. Für Baudrillard sind es nicht mehr die Produktionsverhältnisse, sondern die Produkte, welche die Bedürfnisse und Verhalten des Einzelnen manipulieren. Diese Ersetzung der politischen Ökonomie durch eine Theorie des Zeichen- und Objekt-Fetischismus gipfelt schließlich in einer Kritik, in der Baudrillard die Fixierung der Linken auf die Produktionsverhältnisse und die daraus resultierende Klassenfrage scharf angriff.

Diese Analyse blieb keineswegs theoretisch, sondern mündete in handfeste Streits mit der Linken in Frankreich: Ende der siebziger Jahre attackierte Baudrillard in mehreren Zeitungsessays die Kommunistische Partei Frankreichs und deren Protagonisten (etwa deren damaligen Vorsitzenden Georges Marchait) unterstellte ihnen, zu den Nachlassverwaltern der politischen Macht geworden zu sein, welche selbst im Begriff sei, sich aufzulösen. Die Linke verschwände gleich mit, beschleunige sogar ihren Untergang in der "Ära der Simulation", indem sie die Zeichenhaftigkeit der Wirklichkeit ignoriere und sich nach wie vor auf obsolete Theorien politischer Ökonomie konzentriere. Die Simulationsmoderne, als deren prägnantester Analytiker Baudrillard ab Ende der 1970er Jahre auftrat, hatte begonnen und alle am Realen orientierten Kulturanalysen schienen ins Leere zu laufen. In seinem Buch Vergesst Foucault (1977) hat Baudrillard dies anhand der Macht-, Sexualitäts- und Selbst-Analysen seines Landsmannes vorgeführt. Er warf ihm vor, über Dinge zu sprechen, die nicht mehr existieren, anstatt über die Zeichen, die sie hinterlassen haben.

Wie Science-Fiction klingen Baudrillards Ausführungen in einem seiner Hauptwerke, Agonie des Realen, in dem er seine Simulationstheorie aus Der symbolische Tausch und der Tod ausweitete und gleichzeitig mit seiner Diagnose des unmöglich gewordenen Politischen verband. Eine Realität, die durch die mediale Zeichenmaschine in Hyperrealität verwandelt wurde und wo die Zeichen die Stelle des Realen einnehmen (Simulacren), um zu kaschieren, dass das Reale nicht mehr existiert, mutet an wie "verkehrte Welt". Und dennoch haben sich etliche dieser Analysen bereits zur Zeit ihrer Formulierung als evident erwiesen: angefangen beim steten Vordringen der Medien in den Bereich des Privaten (dem Baudrillard später mit seinem Begriff des "Obszönen" auf den Leib rückt) bis hin zum Versuch, über die Medienmaschinerie Hollywoods Geschichte umzuschreiben.


Dies alles ist Baudrillard zufolge möglich und glaubhaft geworden, weil es das Reale nicht mehr gibt. Es ist zusammen mit dem Tod gestorben; die Verdrängung des Todes aus der Gesellschaft "zum Vorteile der Reproduktion des Lebens als Wert", schreibt er in Der symbolische Tausch und der Tod hat dazu geführt, dass die Natürlichkeit insgesamt dem Schein geopfert wurde, weil sie "unmenschlich, irrational und sinnlos" erschien. Diese Diagnose, so pessimistisch sie sich ausnimmt, lässt doch Möglichkeiten offen, ihr zu entkommen. Baudrillard selbst stellte sie in den Konzepten des "symbolischen Tauschs", der "Verführung" und des "Fatalen" zur Verfügung.

Aus der Anthropologie des französischen Ethnologen Marcel Mauss entlehnte er für seine a-ökonomische Tauschtheorie die Idee des "Potlatsch", einer Gabe, die ohne Gegengabe bleiben muss, weil sie auf der Zerstörung des Gegebenen beruht und damit die Dialektik gegenseitiger Tauschprozesse zu durchbrechen vermag. Hierin findet sich eine gesellschaftliche Utopie Baudrillards, in der etwas Drittes die Dualismen (Gut - Böse, Leben - Tod, Kommunismus - Kapitalismus) durchbricht, weil es auf einem ihnen fremden Prinzip basiert. Ähnlich die "Verführung", die Baudrillard als Gegenkraft zur alles nivellierenden Simulation auffasst, weil sie diese durch spielerische Übersteigerung subversiv unterläuft. (Lasst euch nicht verführen!, 1983) und die "fatale Strategie", die mit Hilfe des "katastrophischen Denkens" die Theorie dazu verwendet, ihren Gegenstand bis zur Ekstase in Richtung seines Untergangs zu denken.

Baudrillards Begriffe von Simulation, Realität, Verführung, Fatalismus, Symbolizität und selbst Tod erhalten hier alternative oder erweiterte Bedeutungen, nähren sich aber stets auch am common sense, den sie mit ihrer "missbräuchlichen Verwendung" infrage stellen. Dass die teilweise hochkomplizierten Theoreme, die sich hinter diesen Begriffen verbergen (beziehungsweise aus ihnen hervorgehen), keineswegs nur auf das Feld der Theorie beschränkt bleiben, sondern teilweise prognostische Potenz besitzen, hat gerade die jüngere kulturelle Entwicklung immer wieder deutlich vor Augen geführt. Es scheint, wie Baudrillards Biograf Falko Blask schreibt, "daß die Alltagserfahrung Baudrillard geradezu offensichtlich widerlegt, daß aber seine Thesen dennoch Evidenz besitzen". Diese Evidenz zeigt sich, wenn man die ideologischen Konzepte, die sich hinter den Phänomenen des Alltags verbergen, einer eingehenderen Betrachtung unterzieht. Dann erscheinen selbst 30 Jahre alte Überlegungen wie die Simulationstheorie beinahe wie Prophetien, die die Phänomene der Gegenwart beschreiben.

Die Potenz dieser Prognosen reicht von Medien-Phänomenen wie der Big Brother-Show, die Baudrillard bereits in Agonie des Realen (1978) vorausgeahnt hat und dem Computerspiel "Second Live", dessen Simulationsparadigma er in Videowelt und fraktales Subjekt schon 1989 vorwegnahm, bis hin zu hyperrealistischen Medien-Ereignissen wie dem dritten Golfkrieg, dessen Medienstrategien er bereits anhand des zweiten Golfkriegs in La Guerre du Golfe n´a pas eu lieu (1991) beschrieben hatte: Man muss natürlich auch noch die Zerstörung des World Trade Centers dazurechnen, der eine Terror-Logik zugrunde lag, die Baudrillard 28 Jahre zuvor in Die fatalen Strategien (1983) antizipiert hatte.

Gerade in letzterem Fall scheinen die Analysen in Anbetracht des islamistischen Terrorismus, gedeutet als dialektisches Gegenprinzip zur "Macht des Westens" überaus evident: Im Credo "Ihr liebt das Leben, wir lieben den Tod" verrät sich bereits die identische (ökonomische) Ideologie beider Seiten derselben Medaille. Vor allem diese kühlen und zeitnahen Analysen des Terrorismus haben Baudrillard den Vorwurf des Zynismus eingebracht. Innerhalb seiner Theorieentwicklung sind sie jedoch nicht nur absolut folgerichtig, sie erklären auch die Zusammenhänge etlicher Phänomene der Gegenwart, etwa das Attentat vom 11. September 2001 mit der Globalisierung, der Konstruktion politischer Realität durch die Medien, der Abhängigkeit des "Guten" vom "Bösen" und der Pervertierung des Todes.

Diese Diskussion über Baudrillards Theorien wird nach dem Verschwinden der Politik notwendigerweise transpolitisch sein. Sie wird mit seinen Theorien und deren Begriffen geführt werden. Dass diese dabei eine Veränderung und Erweiterung erfahren werden, ist im Sinne des Erfinders (beziehungsweise Entwenders), wie er im "Vor-Wort" der Paßwörter schreibt: "Für jemanden, der nicht beansprucht, daß sein Denken als endgültig und in sich geschlossen zu gelten hat, ist klar, daß Wörter ein Eigenleben besitzen - und folglich sterblich sind. Für mich ist das klar. In der Zeitlichkeit der Wörter liegt ein beinahe poetisches Spiel von Tod und Wiedergeburt."

Stefan Höltgen, Jahrgang 1971, ist Film- und Kulturwissenschaftler und arbeitet als freier Journalist und Publizist in Bonn.


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