Dem Gifteln habe sie zwar nachgetrauert

Drogen Im Schweizer Haus Hadersdorf versucht die Stadt Wien eine weiche Form des Drogen-Entzugs, die nicht ganz einfach zu bewältigen ist

Das eine kennt jeder. Selbst an regnerischen Tagen ist es schwierig, in der Stube mit der Adresse Prater 116 einen Platz zu bekommen, und bei Sommersonnenschein platzt das bereits 1766 urkundlich erwähnte "Schweizer Haus" trotz großem Gastgarten aus allen Nähten. Nach der obligatorischen Fahrt mit dem Riesenrad gibt es offenbar nichts Schöneres, als sich dort mit Budvar-Bier und Schweinsstelzen - dem österreichischen Eisbein - den Magen zu beschweren.

Das andere kennt kaum einer. Das Land der Uhren und der Schokolade hat seinen Namen auch für eine andere, wesentlich weniger auffällige Wiener Institution veräußert. Das "Schweizer Haus Hadersdorf" (SHH) ist der österreichweit einzige Ort, an dem Menschen mit Drogenproblemen auch dann eine Therapie machen können, wenn sie noch nicht clean sind und - wie viele der Klienten - regelmäßig die Ersatzdroge Methadon verabreicht bekommen. Erst knapp vier Jahre gibt es dieses "Therapie statt Strafe"-Programm, das auch weniger disziplinierten, zumeist kriminell vorbelasteten Süchtigen eine Rückkehr in die Gesellschaft ermöglichen will.

Von Donau und Riesenrad ist das weit weg. Man muss zunächst die U-Bahnlinie vier bis zu deren westlichster Haltestelle Hütteldorf nehmen. Diesen Regionalbahnhof fahren hauptsächlich die briefkastengelben Busse der Post an, die in Österreich für den öffentlichen Verkehr außerhalb der Ballungszentren zuständig sind. Der Bus ist klimatisiert wie eine Limousine, so dass trotz des Altweibersommers draußen sich eine Gänsehaut auf den Fahrgästen bildet. Die Strecke windet sich über Serpentinen einen Hang hinauf, und nach dem Aussteigen ist nichts weiter zu sehen als eine beschauliche Vorortvilla an der nächsten. Eine unauffällig graues, von einem großzügigen Garten umgebenes Bauwerk gibt sich erst nach einigem Suchen als das SHH zu erkennen.

Innen ist von Idylle nicht mehr viel zu spüren. Im ersten Stock liegen die Patienten- und das Betreuerzimmer unmittelbar nebeneinander. Während der Dienstübergabe dringen überlaute Fernsehstimmen und hämmernde Bässe durch die Wände. Ständig werden Türen zugeschlagen, "es zieht!" wird so oft geschrieen, als sei es ein Fußball-Schlachtruf, und alle paar Minuten schlägt jemand mit der flachen Hand gegen die Tür, hinter der nun die Aufgaben des Nachtdienstes besprochen werden - von dem ganzen Treiben so unberührt, als wäre es fernes Vogelgezwitscher. Nach einem Rundgang durch den Garten, Begegnungen mit den zwei Katzen des Hauses, Blicken in den Essraum, die Arbeitsstätten und die kleine Fitnesskammer im Keller, die zu dieser Zeit alle leer sind, führe ich in einem Bürozimmer Gespräche mit drei Patienten.

Das hat mit "Selbstrespekt" zu tun, erklärt Heinz*, während er gegen die laute Musik aus den Wohnräumen anspricht, denn "das ist mein Körper, das ist mein Leben". "Mit den Drogen" aber, doziert der 23-Jährige weiter, "hast du keine Zukunft, keine Fantasie". Er schaut mich lächelnd bis grinsend an und ich habe das Gefühl, da sagt jemand ein auswendig gelerntes Gedicht auf. "Ich bin Mensch und will Mensch bleiben", geht es weiter, und nun muss auch ich lachen, weil Grönemeyer im Nebenzimmer gerade seinen "Und der Mensch ist Mensch"-Ohrwurm anstimmt. "Aber mit Drogen kannst du das nicht sein, mit Drogen bist du in deiner eigenen Welt." Viele hier im SHH hätten deshalb "den Glauben verloren, die Freunde verloren", alles sei ihnen egal geworden, und auch er habe Angst bekommen, "mit der Beschaffenskriminalität in Berührung zu kommen". Das liege aber auch an Wien, das verklemmt sei und beschissen. Hier gebe es einfach zu viel Depression, so viel Unzufriedenheit und Schwarzmalerei. "Nur die Szene ist gut, abends ist die Stadt lockerer." Die guten Leute in guten Clubs zu fotografieren ist sein Traum. Wenn er die Therapie endlich hinter sich hat, will er nämlich an der Uni Fotografie studieren und nebenbei wie früher in der Gastronomie jobben - am besten in einem Coffee Shop. Klar, sagt er auf meine Frage, er habe schon ein bisschen Angst, dabei wieder in die Abhängigkeit zu geraten, obwohl er nur wegen eines "mittelschweren Drogenkonsums" hier sei, wie er betont. Psychisch, also wirklich süchtig, sei er nie gewesen, weshalb er sich schon vorstellen könne, auf einer Party ab und zu mal wieder was zu kiffen. So schwammig, wie das klingt, schaut er jetzt auch. Viel besser hätten wir alle es, meint er dann und lacht, wenn wir nur in Brasilien leben könnten, wo das Leben ein einziger "Nonstopsamba" ist.

Carla lebt seit fast sechs Monaten im Schweizer Haus, in zwei Wochen wird dieser stationäre Therapie-Teil abgeschlossen sein. Darauf folgt planmäßig noch ein weiteres halbes Jahr im "Betreutes Wohnen"-Programm, worauf sie sich schon freut. Die ersten zwei Monate im SHH seien furchtbar gewesen, erzählt sie, "ganz ohne Ausgänge und ohne auch nur ein bisschen Geld in die Hand". Dem "Gifteln" habe sie zwar auch nachgetrauert, trotzdem: Hier gebe es zu viel Kontrolle und "die Betreuer nutzen ihre Position aus". Kein Wunder, meint sie, dass sie so trotz Substitution anfangs viele Rückfälle hatte, in diesem "Zwischending zwischen Gefängnis und Freiheit", in das man seine Drogen irgendwie doch immer einschmuggeln kann, wenn einem das Methadon nicht reicht. Die Einzeltherapie habe ihr dann aber sehr geholfen, obwohl sie auf so etwas am Anfang überhaupt keine Lust hatte. Auf die Ursachen ihrer nun schon zehn Jahre dauernden Sucht angesprochen, erzählt die 26-Jährige - wie mir vorkommt nicht ohne Genuss über den schockierenden Effekt - von einer äußerst demütigenden Vergewaltigung von fünf Männern während einer Party, als sie 15 war. Mit Beruhigungsmitteln und Schlaftabletten habe so alles angefangen - um zu vergessen. Das funktionierte nicht und Heroin und Kokain kamen hinzu. Und das Problem, das Geld dafür zu organisieren, was sie wegen Diebstahls ins Gefängnis brachte. "Doch jetzt ist es abgeschlossen, weg von mir, meiner Seele, meinem Geist." Früher habe sie sich jeden Morgen erst Mal etwas "anrichten" müssen, doch jetzt wisse sie, dass sie drogentechnisch "nichts mehr tun werde". Als ihren wichtigsten Plan für die Zukunft bezeichnet sie, im nächsten Jahr ein Baby zu bekommen - zusammen mit ihrem Lebensgefährten, der jetzt noch im Gefängnis ist.

Leo ist vierzig und erst seit vorgestern wieder hier, zwischendurch musste er "mal fünf Tage raus". Damit meint er, dass er von der Kulanz des Schweizer Hauses Gebrauch gemacht hat, Abgehauene (und also Abbrecher) in der Regel wieder aufzunehmen und ihnen ein Fortsetzen der Therapie zu gestatten, wenn sie nicht zu lange wegbleiben und während dessen keine schweren Straftaten begehen. Ja, sagt er, das organisierte Leben hier habe ihm schon viel geholfen, sei andererseits aber auch oft nervig. Dass ihm Leute, die zumeist wesentlich jünger sind als er, "sinnlose Verbote" erteilen, "passt einfach nicht". Wenn man selber noch jung ist, gibt er zu bedenken, dann "schnupfst du das noch anders". Aber als älterer Mann herumkommandiert und zur Arbeitstherapie gezwungen zu werden - das sei übel: "Du hast manchmal keinen Bock, aber du musst, obwohl du schließlich im Krankenstand bist, doch das nützt nichts." Ich kann mir kaum vorstellen, dass Leo bei den harten Muskeln, die sich unter seinem T-Shirt abzeichnen, jemals körperlich krank ist. "Knast habe ich auch hauptsächlich wegen Körperverletzungen, Drohungen, Nötigungen gemacht", erzählt er und deutet meine Blicke als Frage, "früher hatte ich viel mit Gewalt zu tun". Und doch, ja, am Heroin und Kokain sei es auch gelegen. Am Anfang hat er nur damit gehandelt, doch irgendwann ist er selber drauf "einigekippt". Das "Gift" steigere das Selbstbewusstsein, und das habe bei ihm zu noch mehr Gewalt geführt. "Es gibt überhaupt viele Leute, die eine Therapie nötig hätten, für das Leben, manche Menschen können mit ihren Aggressionen einfach nicht leben." So sei es auch bei ihm gewesen. "Früher habe ich einfach zu viel in mich hineingefressen, doch jetzt lasse ich es nicht mehr so weit kommen, ich wehre mich verbal."

Am nächsten Tag in einem Café im fünften Wiener Gemeindebezirk. Wolfgang Werdenich, dem therapeutischen Leiter des SHH, sieht man in dem hellen Sonnenlicht an, dass er viele Jobs macht. Er wirkt müde und gehetzt, doch dabei immer konzentriert. Was ihm falsch gefragt vorkommt, wischt er mit einer kaum vorhandenen, aber umso nachdrücklicheren Bewegung beiseite. Der Erfolg des Schweizer Hauses lasse sich noch nicht messen, denn man habe ja erst ein paar Jahre Erfahrung damit. Auch sei nicht die Frage, wie viele der dortigen Klienten den Ausstieg schaffen. Von den Drogen runter zu kommen sei für die meisten nicht das eigentliche Problem, sondern "die Frage der sozialen Integration ist wichtig". Viele könnten in unserem gesellschaftlichen Rahmen nicht alleine für sich sorgen und das, was ihnen die "Normalität" anbietet, nicht annehmen und wertschätzen. Deshalb sei der zweite Teil der Therapie - das betreute Wohnen und die Hilfe bei der Suche nach einem Arbeitsplatz - entscheidend. Mit anderen Sucht-Einrichtungen verglichen, die es in Österreich gibt, sei das SHH "bewusst niederschwellig". Die Anforderungen der Aufnahme halten sich in bescheidenen Grenzen. Lediglich eine gewisse "Stabilität" sei unumgänglich, eine Form von Rest-Disziplin, die mit beinahe preußisch klingenden Tugenden wie "Pünktlichkeit", "regelmäßiges Erscheinen" und "Kooperationsbereitschaft" umrissen wird - ohne "größere Durchbrüche und Ausbrüche", was Kriminalität und Drogenkonsum betrifft. Werdenich betont, dass er strikte, "abstinenzorientierte Programme" nicht für ineffektiv hält, doch brächten nur fünf Prozent aller Leute mit Suchtproblemen die Kraft auf, an solchen dauerhaft teilzunehmen. Und um diesen Kreis auch auf Leute zu erweitern, die noch "substituiert" werden müssen, gibt es Hadersdorf. Mit zu geringen Wiedereingliederungs-Zahlen darf sich die Gesellschaft nicht zufrieden geben, findet der therapeutische Leiter. Das Chance-Geben stehe deshalb über dem Strafe-Auferlegen. Aber er sei sich andererseits auch darüber klar, dass viele das SHH wählen, weil es bequemer als das Gefängnis und der stationäre Aufenthalt dort relativ kurz und angenehm ist.

Einige Tage später herrscht kaltes Herbstwetter. Ich rufe noch einmal im Schweizer Haus an, um nach meinen Gesprächspartnern zu fragen. Heinz hat sich selbst für geheilt erklärt und ist nicht mehr da. Carla hatte plötzlich einen schweren Rückfall nach dem anderen und ist weg. Leo ist abgehauen. Wenn er bald wieder zurückkommt, wird er vielleicht wieder aufgenommen.

* Die Namen der Klienten des Hauses wurden geändert.

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