"Gibt es da noch ein Teil?" fragt mich ein Mann aus Belarus, der staunend vor dem russischen Denkmal steht und nun zum Reichstag möchte. In der Hand hat er einen Zettel mit allem, was er sich anschauen soll, keinen Stadtplan. "Man hat ihn erneuert", sage ich und weise Richtung Norden, "er sieht jetzt viel schöner aus als früher". Der in der vom Asphalt vervielfachten Nachmittagssonne stark schwitzende Mann schaut mich verständnislos an. "Es gibt noch ein Teil von Reichstag", murmelt er, "ich interessiere mich für alles mit Grenze". Ich nicke und will weitergehen. "Wo ist Grenze?" fragt er und hält meinen Arm fest - und nachdem ich auf das Brandenburger Tor gezeigt habe: "Warum im Westen es gibt so viele Türken, Kurden, Araber?"
Das neue Berlin interessiert nicht jeden, und wer sich auf der Suche nach Zementierungen von früher befindet, ist genau hier goldrichtig. Ein Blick auf das zu Ehren der Roten Armee errichtete Denkmal macht einen Besucher etwa glauben, er sei zumindest in Treptow-Osten, vielleicht sogar schon fast in Moskau. Ein riesiger soldatischer Recke mit finster-entschlossenem Gesicht macht mit seiner Pranke eine pathetisch unterwerfende Geste. In einem der beiden historischen Panzer, die neben ihm in das Kunstwerk integriert sind, hätte ein solcher Kerl niemals Platz. Was hat so ein Ding auf der Chaussee verloren, wo seit 1964 die Mächte des Westens bis zum Mauerfall mit schwerem Geschütz und großem Tamtam jedes Jahr ihre Alliiertenparade abhielten?
Chaussee wäre das richtige Wort - doch es ist im Kalten Krieg untergegangen. Vor dessen Ausbruch noch setzten die Russen sich hier, knapp westlich des Brandenburger Tors, aus dem Marmor von Hitlers Neuer Reichskanzlei ihr pompöses Ehrenzeichen. Sechs Monate zuvor erst waren die Deutschen besiegt worden. Als ab 1961 Westberlin in offiziellen DDR-Stadtplänen bis auf wenige Hauptstraßen nicht mehr dargestellt wurde, verzeichnete man auf diesem großen blinken Fleck immerhin noch hämisch das "Sowjetische Ehrenmal". Umgekehrt nutzte der dem Kapitalismus frönende Stadtteil die Nähe des Ortes zur Grenze dazu, in den Wunden der Arbeiter- und Bauernhauptstadt zu stochern. Am 22. Juni 1953 beschloss der Senat, "zum Gedenken an die Opfer des Arbeiteraufstandes in Ost-Berlin und in der DDR" die 4,5 Kilometer lange Charlottenburger Chaussee in "Straße des 17. Juni" umzubenennen. Damit war ein großes, breitspuriges Areal bis nach Charlottenburg hinein politisiert.
Weil die Straße des 17. Juni anders als der östliche Nachbar Unter den Linden niemals von nahe stehenden Häusern, sondern immer bloß durch den angrenzenden Tiergarten bestimmt worden ist, bot sie sich für eine grenznahe Beschallung des Gegners durch Marschmusik zudem besonders an. Man musste nicht wie die drüben ein ganzes noch recht gut erhaltenes Schloss wegsprengen, um Platz für seine Aufmärsche zu haben. Nur schade, dass der riesige Russe und seine kleinen Panzer von ihren Podesten aus immer das Marschieren der Feinde im mürrisch-kontrollierenden Blick haben konnten. Einfach wegsprengen ging dann doch nicht, schließlich hatten die Russen Berlin befreit.
Ich bin der einzige, der diese breite, lange Nicht-Straße in Richtung Westen hinuntergeht. Kein Wunder, man kann hier nicht flanieren, nur marschieren. Für ein Schlendern viel zu zielgerichtet führt der viele Asphalt auf den Großen Stern zu. Neben dem an die Parkbäume grenzenden Rad- und Gehweg rasen Autos Schnauze an Heck vorbei, als wären sie in einem Videospiel, bei dem jeder versuchen muss, sich millimetergenau am Gegner vorbeischlängelnd als erster durchs Ziel zu schießen. Dazu passt, dass knapp nach dem Brandenburger Tor die Straßenmarkierungen verschwinden und erst wenige Meter vor dem Großen Stern wieder auftauchen - dazwischen ist alles erlaubt. Aus dem Tiergarten heraus duftet es dabei nach verbranntem Fleisch und umgeworfenen Toilettenhäuschen.
Am Riesenkreisel des Großen Sterns bremsen dann alle Fahrzeuge widerwillig ab. Und kaum ist die Ampel auf Rot gesprungen, kommt ein Schwarm Punker hervor und bietet krawattenversehenen Manager-Typen unterwürfig und schüchternen Normalos aufdringlich seine Putzkünste an. Vor allem, wenn letztere das Gewische auf ihrer Windschutzscheibe ablehnen, werden sie mit fiesen Sprüchen überschüttet. Für einen Moment macht sich dann bei allen Betroffenen die Einsicht breit: Die Welt ist voller Arschlöcher.
Nur an ganz besonderen Tagen im Jahr fällt dieser kathartische Ritus aus. Dann wird das Areal dazu benutzt, wofür es früher berühmt war: zur Parade. Wenn am Großen Stern, in dessen Mitte die peinliche Siegessäule thront, alle Techno-Gefährte endlich zum Stehen gekommen sind und eine Wagenburg gebildet haben, darf bei der Love Parade in die Nacht hinein getanzt - äh, protestiert - werden. Oder es kommt vor, dass die Rollerblades-Fahrer der Stadt eine Demonstration anmelden, um als Anwälte der Inline-Skater-Rechte die Autoschwärme zu ersetzen - äh, zu kritisieren. Die einzig wirkliche Demonstration, die sich heutzutage regelmäßig über den 17.-Juni-Asphalt ergießt, dürfte allerdings diejenige zum Schutz des Tiergartens sein - vor pseudopolitischen Zusammenkünften, deren Dreck der Park stets schlucken soll.
Man muss noch einige Zeit weiter Richtung Westen brettern, bis sich der Charakter der Straße ändert. Erst hinter dem S-Bahnhof Tiergarten setzt das Städtische zaghaft wieder ein. Rechterhand sieht der Rennfahrer für einen Moment dann das Ernst-Reuter-Haus aufblitzen, und fährt er auch noch so schnell. Dieser pseudo-klassizistische Kasten ist nämlich so riesig, dass man ihn beim besten Willen nicht ignorieren kann. Der erst 1942 ganz fertig gestellte Sitz des Deutschen Gemeindetags war eines der letzten Bauwerke, das die Nazis in ihrem Germania realisieren konnten. Wenige Fahrsekunden später geht es sogleich in die ehemals von Berlin getrennte Kleinstadt hinein. Dabei übersieht man leicht, dass man über Charlottenburger Brücke und durchs Charlottenburger Tor zischt. Der Landwehrkanal ist so schmal, dass man sein Vorhandensein bei entsprechender Geschwindigkeit kaum bemerkt, und der ehemalige Grenzpunkt hat mit seinem berühmten Counterpart am östlichsten Ende der Chaussee so gar nichts gemein. Links und rechts neben der Fahrbahn stehen bloß zwei klobige Klötze, die höchstens an die Ränder eines Tores erinnern. Doch in der Mitte ist ein Void, man fährt also durch das Nichts hindurch.
Was man an Wochenenden an dieser Stelle hingegen nicht übersieht, ist der große Markt, der die Straße an ihrem rechten Rand lange begleitet. Ein Teil davon dient teurem, betulichem Kunsthandwerk wie schwarz-weiß-bemalten Tellern, farbenfrohen Tüchern, fröhlichen Aquarellen und artigen Holzschnitzereien. Den anderen könnte ein Fremder zunächst für einen schlichten Flohmarkt halten, doch bald belehren ihn die hohen Preise und ihre vollkommene Unverhandelbarkeit eines besseren. Er schiebt sich mit den vielen Besuchern durch einen "Trödel- und Antikmarkt", auf dem neben steril aufpolierten Schränken von Omas aus dem Umland manchmal auch ein paar Bücherschinken, Krüge, Silberlöffel oder auch Kleiderstangen auftauchen - mit denselben Swiss-Army-Jacken daran, die in Amsterdam, London und Kopenhagen seit Jahrzehnten an Touristen verkauft werden.
Am Ende dieses merkantilen Glanzpunktes der Spießigkeit hält der Autofahrer schon stramm auf den finalen Ernst-Reuter-Platz zu. Links und rechts grüßt noch ein sehenswertes Mischmasch aus alten und neuen Kästen, das zur Technischen Universität gehört. Doch dann ist der Schlusspunkt des 17. Juni erreicht, wo er nur mehr eine von fünf großen Achsen ist, die in dem Kreisel ihr Ende finden. Bis zur frühen Nachkriegszeit kamen die Straßen hier einfach nur so zusammen und hatten da, wo sie ineinander stießen, den schlichten Namen "Knie". In den fünfziger Jahren meinte man im Westen jedoch, gerade hier ein Musterbeispiel urbanen Lebens realisieren zu können. Das Ergebnis stellt eine Gruppe wenig hoher Hochhäuser dar, die im Kreis um den neu geschaffenen Platz herum dort eingefügt sind, wo die vielen Straßen noch Platz lassen. Den Verweil-Ort selber erreicht man lediglich durch eine Unterführung.
Ich bin der einzige, der diesen Weg wählt. In der Mitten-Insel des Ernst-Reuter-Platzes aus dem Untergrund wieder hervorgekommen wird schnell klar, warum das so sein muss. Hier befinden sich auf engem grasversehenem Raum bloß ein paar Fahnenstangen mit EU-Flaggen und ein plätscherndes Brunnen-Etwas, das so aussieht wie ein Freibad für Liliputaner. Nachdem ich mich ins Gras gelegt habe, lausche ich dem Lärm, den die Leute in ihren Autos beim Umkreisen dieses Nicht-Platzes machen. Wenn es einen Berliner Ort gibt, wo man neben Hunderten von Menschen perfekt allein sein kann, dann ist es dieser. Verständlich, dass man anderswo auch gerne so etwas hätte. So hat Leipzig am 22. Januar diesen Jahres beschlossen, eine Anlieger-Straße in der südlichen Vorstadt in "Straße des 17. Juni" umzubenennen, die früher Kleine Burggasse hieß.
"Oft kopiert - nie erreicht", lacht es da vom Großen Stern herunter.
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