Kein Gedenkansprachen-im-Bundestag-Gesicht

Im Kino "Ein ganz gewöhnlicher Jude" von Oliver Hirschbiegel entwickelt sich zu einer furiosen Beschimpfungstirade à la Thomas Bernhard

Die Handlung von Oliver Hirschbiegels neuem Film beginnt mit einem Brief: Ein Lehrer schreibt an die Jüdische Gemeinde Hamburg und bittet um Hilfe. Der Pädagoge möchte im Sozialkunde-Unterricht einen authentischen "jüdischen Mitbürger" auf die Fragen seiner Schüler antworten lassen. Er kennt aber leider keinen persönlich. Die Wahl der Gemeinde fällt auf den Feuilletonisten Emanuel Goldfarb, der als wortgewandt gilt. An ihn sendet man das Schreiben weiter.

Der Film Ein ganz gewöhnlicher Jude zieht sich mit Begeisterung das Struktur-Korsett eines typischen Buchs von Thomas Bernhard an. Am Anfang steht die Einladung zu einer Veranstaltung, der die Hauptperson nicht Folge leisten will, wie etwa in Bernhards Holzfällen, das im Untertitel Eine Erregung heißt. Die gedankliche, in sich selbst versponnene Auseinandersetzung mit der Einladung und dem Einladenden führt dann, bei Bernhard und eben auch bei Hirschbiegel, zu immer mehr Wut und Verbalattacken.

Auf einzelne Stücke des Briefs wie die Grüße "mit einem herzlichen Shalom" reagiert Goldfarb mit Wortkaskaden über das "deutsche Betroffenheitsgesicht", das er in Gestalt des Lehrers vor sich sieht, das "Lea-Rosh-Gesicht", das "Gedenkansprachen-im-Bundestag-Gesicht". Bei Bernhard ist es die "Wiener Gesellschaftshölle", die "entsetzliche Stadt Wien", die "ganz spezielle österreichische Perversität", die er geißelt, "wo mir ja überhaupt alle derartigen Einladungen verhasst sind". Entscheidend ist in Holzfällen wie in Ein ganz gewöhnlicher Jude, dass keine andere Figur von diesen Ergüssen etwas mitbekommt - denn der Leser oder das Publikum soll Zeuge der einsamen Monologe eines Einzelnen in einem abgeschlossenen Raum werden.

Dass der jüdische Intellektuelle ausgerechnet von dem "teutonischen", sich gerne als Wilder in der Nachfolge Klaus Kinskis präsentierenden Ben Becker gespielt wird, mag bei manchen Zuschauern am Anfang Beklemmungen und Peinlichkeitsgefühle auslösen. Becker - in den ganzen 90 Minuten nur für Sekundenbruchteile nicht allein - setzt sich eine Brille auf, hat Sloterdijk auf seinem durchgestylten Schreibtisch liegen, und die Selbstgespräche, in die er uns einbinden will, wirken zunächst gekünstelt und unglaubwürdig - genauso wie die Familienfoto-Sammlung unterm Schrank, die er ans Licht zerrt. Was macht dieser Typ aus der Prince-Werbung vor den altmodischen Bildern mit den dunklen Gesichtern mit jüdischen Merkmalen aus dem Nazi-Bilderbuch?, fragt man sich unwillkürlich. Als Franz Biberkopf hat er seine Sache ja gut gemacht, aber wieso redet er jetzt von der "Last von viertausend Jahren Geschichte auf meinen Schultern"?

Aber dann passiert etwas Überraschendes: Der Muff der achtziger-Jahre-Ästhetik, dieser monologisierenden Nabelschau und der naseweisen Publikumsbeschimpfung à la Thomas Bernhard, verfliegt erstaunlich schnell aus dem Innenleben des Hamburger Neubaus. Was damit zu tun haben mag, dass Goldfarb alsbald zum Diktafon greift. Er zeichnet die Gedanken auf, die in seiner Erregung auf ihn einschießen, um daraus später einen Text zu machen. Doch mehr und mehr wird das Aufzeichnungsgerät zum Lehrer, den Becker anspricht, gegen den er anschreien und anrennen kann. Durch das Auftreten eines Widerparts, und wenn der Schauspieler diesen auch nur in der eigenen Hand hält, kann Becker mehr und mehr seine Stärken ausspielen - und mit ihm der ganze Film, in den nun Bewegung kommt.

Goldfarb nimmt das Diktafon mit durch seine Wohnung, zeigt ihm die Gebetsriemen aus seiner kurzen Zeit als Religionsbeflissener, zeigt ihm den Balkon überm Verkehrslärm und das Geländer, von dem er sich stürzen wollte, um seine Ex-Frau zum Bleiben zu bewegen. Die Sätze, die er von sich gibt, werden persönlich, gewinnen Gestalt. Starre Witz-Reflexionen à la "Wir sind eine Glaubensgemeinschaft, die durch das zusammengehalten wird, was die anderen von uns glauben" schlagen um in eine persönliche, schmerzliche, seit langem fällige Auseinandersetzung mit dem Hauptvorwurf der Ex-Frau: "Du bist so unerträglich jüdisch geworden". Schließlich nimmt Goldfarb das Diktafon mit in den Keller, um eine Karte von Israel zu suchen. Denn in Deutschland, wirft der dem Mikrofon vor, sei er ja nur zu Besuch, "seit Generationen immer nur zu Besuch".

Spätestens in diesem Moment ist es dem Duo Becker/Hirschbiegel gelungen, die abstrakte und zum Gähnen oft gestellte Frage, ob ein Jude in Deutschland etwas Normales sein kann, zwar nicht zu beantworten, aber mit neuer Spannung aufzuladen.


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