Noch zittert manchmal die Luft

Hotspot Brixton Diese Gegend im Süden von London ist im Kommen, sagen die einen. Manches ist besser, anderes ist noch schlechter geworden, sagen die anderen

"Was passiert, wenn die Polizei bei dir einbricht?" fragen The Clash 1979 in einem Song. "Liegst du dann erschossen auf der Straße oder wartest du in einer Todeszelle?" Der Song heißt "Guns of Brixton".

In diesem Viertel im Süden von Londons City wohnen Ende der siebziger Jahre einige weiße Anarchisten und Ultralinke, aber hauptsächlich Schwarze. Die Arbeitslosenquote ist gerade unter ihnen hoch. Von den verlotterten Substandardwohnungen, die sie bewohnen, gibt es zu wenige, und die meisten Raubüberfälle Londons passieren hier im von ihnen beherrschten Triangle. Die baufälligen Häuser auf dem Dreieck, wo Railton und Mayall Road ineinander führen und auf die Coldharbour Lane zulaufen, sollen schon lange abgerissen werden, doch der Stadtverwaltung fehlt das Geld. Einige Ruinen haben sich in Partykeller mit Reggaemusik und Drogen verwandelt. Gewalt ist an der Tagesordnung. Den weißen Polizisten entgleitet die Kontrolle immer mehr, was sie durch immer harschere und willkürlichere Durchsuchungen zu kaschieren suchen. Ganze Straßenzüge werden abgeriegelt und durchforstet, während niemand in seine Wohnung zurück oder aus dieser heraus darf.

Unterwegs zwischen halbtoten Schalentieren

Bei der 1981 begonnenen Operation Sumpf halten die Cops innerhalb nur einer Woche etwa 1.000 junge Schwarze an und durchsuchen sie ohne Angabe von Gründen. Als im April des gleichen Jahres dann plötzlich Ziegel, Straßensteine und Molotowcocktails auf die fliehenden "Coppers" fliegen, findet die Aktion jedoch ein abruptes Ende. Der Anlass: Eine Streife nimmt einen Schwarzen mit einem Messer im Rücken in Gewahrsam, angeblich um ihn ins Krankenhaus zu bringen. "Um ihn in einer Zelle sterben zu lassen", sagen die Herumstehenden. Und die befreien ihn. Und gehen noch weiter. "Die Luft war wie elektrisiert", erzählt ein schwarzer Augenzeuge. "Die Fenster einer Boutique klirren und verdrehte Schaufensterpuppen fliegen auf die Straße. In der Electric Avenue zerbricht Glas. Ein Geschäft wird ausgeräumt." 1982 besingt Eddie Grant dann diese Straße in dem gleichnamigen Hit - Now in the street there is violence.

"Es waren gar nicht so viele Leute, aber es war ein Zittern in der Luft. Sie kamen unsere Straße hinauf, und wir schauten vom Balkon aus herunter. Ein Auto stand auf dem Kopf und brannte." Die Woolworth-Filiale auf der Brixton Road wurde geplündert, erinnert sich Pete Rogers, und ein Kleiderladen in einem viktorianischen Gebäude neben dem Bahnhof brannte vollständig nieder. Damals war er noch ein Teenager, doch der weiße Sozialarbeiter, der sein ganzes bisheriges Leben in Brixton verbracht hat, kann sich noch gut an diese "Volkserhebung" erinnern, wie die Black Riots heute in England politisch korrekt genannt werden. "Viele Weiße verließen damals das Viertel, auch meine Familie ist wegen der Unruhen zumindest ein Stück weit vom Zentrum fortgezogen, Brixton Hill hinauf. Doch die Drogen folgten ihnen bald."

Von seinem früheren Job als Motorradkurier, den er sechs Jahre lang bis zu einem Unfall hatte - für ihn ein "spirituelles Endzeichen" - ist bei Pete Rogers noch eine gewisse Hektik geblieben, mit der er durch die Straßen läuft. "Ist es hier jetzt wirklich besser als früher? Ich weiß nicht. Vielleicht."

Einem Touristen, der durch diesen großen Woolworth mit seiner glitzernden Weihnachtsdekoration und über das mehr als 300 Stände zählende Marktgebiet schlendert, zu dem auch die Electric Avenue gehört, würde sich ein anderer Eindruck aufdrängen. Das Rathaus bewirbt stolz dieses grell-lebendige Verkaufsgeflecht von exotischen Lebensmitteln, das von "einer der ersten Einkaufsstraßen" ausgeht, "die jemals elektrisch beleuchtet wurden". Aus ganz London kommen am Wochenende Leute, um sich zwischen halbtoten Schalentieren, herabfallenden Beilen, gigantischen Konserven und schreienden Verkäufern hindurch zu schieben. Vor dem Ritzy Cinema - einem beliebten Off-Kino - lauschen Belustigte einem Schwarzen im Sonntagsanzug, der durch ein Megaphon auf die Vorbeieilenden einpredigt, zurück nach Hause zu gehen und die Bibel zu lesen. Auffällig viele Uniformierte, von denen auch einige schwarz sind, patrouillieren zwischen den Passanten auf und ab. Bleibt ein Auto auch nur fünf Minuten lang im Halteverbot stehen, klebt sofort ein Strafzettel auf der Windschutzscheibe. Und abends kommt sowieso alle Welt hierher, um in der Halle des Fridge Clubs die Nacht durchzutanzen oder in der Brixton Academy ein Konzert zu erleben, wo in den vergangenen Jahren Madonna, Eminem, Radiohead und die Rolling Stones gespielt haben.

Wer länger im Coldharbour-Distrikt bleibt, in dem laut letzter Volkszählung von 2001 43,9 Prozent Weiße und 44,3 Prozent Schwarze leben, lernt jedoch langsam, mit den Augen von Pete Rogers zu sehen. "Das ist hier immer noch eine Gegend mit einer der höchsten Kriminalitätsraten Großbritanniens, mit einem Riesendrogenproblem und inzwischen auch einer großen Anzahl von AIDS-Kranken." Zwar habe man seit den Achtzigern einiges in Brixton investiert, und eine direkte Folge der Unruhen seien daher nicht nur ein riesiges Recreation Centre mit Schwimmbad und ein beeindruckendes Angebot an Kulturveranstaltungen, sondern auch gestiegene Grundstückspreise. Doch lebten hier, so Pete, immer noch viele Arme, die sich nur zu oft als Taschendiebe unter die Einkaufslustigen mischten.

Gewaltopfer dürfen in der Schlange nach vorn

Und die Nacht ist ohnehin schlimm genug. Zwar liegen nur Zahlen für den Großbezirk Lambeth vor, der sich - Brixton in die Mitte nehmend - vom Bahnhof Waterloo bis in die südliche Suburb Streatham zieht, doch ist deren Sprache immer noch deutlich genug: 7.904 Gewaltverbrechen, 4.691 Raubüberfälle, 4.748 Einbrüche und 4.793 aufgebrochene Autos allein zwischen April 2000 bis März 2001.

"Ich fühle mich immer verwundbar, wenn ich nachts durch Brixton gehe, besonders dann, wenn ich mich von der Bahnhofsgegend entferne, wo es wenigstens noch ein bisschen Licht und ein paar Passanten gibt." Die Frau, die das in dem Internetforum My Village beklagt, wurde vor ein paar Wochen von hinten angegriffen und auf den Boden geworfen, weil ein paar Teenager auf ihre Handtasche scharf waren. Jemand anders regt sich darüber auf, dass es kein Imbiss wage, in die Loughborough Road zu liefern, wo er wohne. Und wenn er abends über die Coldharbour Lane laufe, um sich sein Essen irgendwo zu holen, würden ihm ständig Drogen angeboten.

"Sagt Ihnen die Broken-Windows-Theorie etwas?" fragt ein Polizist in einem kleinen Vernehmungszimmer der Brixtoner Polizeistation. Eine vernachlässigte Gegend ziehe Kriminalität an. Deswegen würden seine Kollegen hier auch so viel Präsenz zeigen und nicht nur Parksünder, sondern sogar Gehsteig-Radfahrer ohne Diskussion sofort zur Kasse bitten. Vor der Tür im Warteraum rufen derweil hilflos wirkende Plakate "Stop the shooting!" und "Nail the killers in Lambeth!", unter die sich Computerausdrucke im A4-Format mischen. Dort ist zu lesen: Leute, deren Auto gestohlen wurde, sollten im Falle vieler Wartender lieber gleich eine bestimmte Telefonnummer zur Anzeigenaufnahme anrufen, während Opfer von Gewalttaten direkt an den Anfang der Schlange vorgehen dürften.

Auf der einen Seite spricht die Metropolitan Police von einer 2001 erreichten 25-Prozent-Reduzierung aller Verbrechen im Großbezirk, wobei sich dieser Rückgang besonders auf den "Hotspot" Brixton konzentriere. Auf der anderen Seite klagt das Massenblatt The Sun, dass die Drogenkriminalität in der Gegend im Gegenteil um 25 Prozent zugenommen habe. Lambeth sei der "archaischste Teil der Hauptstadt, voller Morde, Autodiebstähle und Drogenschießereien". Schwer wiegt außerdem das kürzlich von der Polizei eingeräumte Versäumnis, nicht wirklich etwas getan zu haben, um mehr Schwarze in die Truppe hinein zu bekommen. Obwohl ein nach 1981 einberufener Untersuchungsausschuss rassistische Benachteiligung als Hauptsursache für die Unruhen ausgemacht und der Polizei empfohlen hatte, mehr Schwarze einzustellen, kommen in ganz England gerade einmal 4,9 Prozent der Polizisten aus Minderheiten - 2009 sollen es laut Planvorgabe 25 Prozent sein.

So überrascht eine Szene aus der Warteschlange auf der Brixtoner Wache vielleicht weniger. Nach langer Zeit können endlich zwei gut angezogene Schwarze vor das beschlagene Glasfenster treten, hinter dem drei weiße Polizisten sitzen. Einer von ihnen nimmt sich einen Krapfen, beißt hinein. Und fragt: "Sind Sie die zwei Gentlemen, die überfallen worden sind?" Als er bald bemerkt, dass die beiden fast kein Englisch sprechen und nun mit Gesten zu erklären versuchen, dass sie beim Übernachten auf der Straße, wo sie leben, von Angreifern mit Brettern verprügelt wurden, sind sie plötzlich nur mehr "die zwei Chaps" (*).

Er könne ihnen außerdem nicht helfen, sagt der Beamte, sie müssten schon selber jemanden finden, der ihre Sprache für eine Anzeige übersetzt, und dann wiederkommen. Dass die Anlaufstelle der Flüchtlingshilfe auf der anderen Straßenseite leicht einen Dolmetscher besorgen könnte, sagt er ihnen nicht. Das sagen ihnen nur ein paar andere Schwarze, die weiter hinten in der Schlange stehen.

(*) umgangssprachlich: zwei Kerle


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