Weiße Flucht aus schwarzen Schulen

Grenzen der Toleranz im niederländischen Bildungssystem "Den ganzen Tag hört mein Kind nur türkisch um sich herum"

Ich bin mit 13 nach Holland gekommen und ging dann in eine gemischte Schule. Jetzt spreche ich immerhin ein annehmbares Niederländisch. Aber mein Kind, das doch hier geboren wurde, hört den ganzen Tag nur Türkisch um sich herum." Vor etwa drei Jahren wurde so eine empörte türkische Mutter im Algemeen Dagblad zitiert, die in ihrer neuen Heimat vor Gericht zog, um die Schließung einer Grundschule zu erzwingen, in die fast nur Einwandererkinder gingen. Die Klage, dass "Überfremdung" die Bildungschancen der Einheimischen senke, ist man gewöhnt. Seltener sind Proteste aus der Perspektive der Einwanderer zu hören - obwohl es auch ihre Aufstiegs- und Integrationschancen sind, die vom Phänomen der "Segregation" betroffen sind.

In den USA wurde gerade eine Klage zweier weißer Frauen abgelehnt (mit fünf gegen vier Richterstimmen), die vor dem Supreme Court gegen die sogenannte affirmative action vorgehen wollten. Die umstrittene "umgekehrte" Diskriminierung erlaubt Universitäten nun auch weiterhin, Schwarze oder Hispanics bei gleicher Qualifikation weißen Bewerbern vorzuziehen, weil Statistiken belegen, dass Minderheiten in den USA noch immer benachteiligt sind.

In Deutschland, dessen Schulsystem durch die Pisa-Studie bekanntlich ein recht schlechtes Zeugnis ausgestellt wurde, forderten im vergangenen Jahr viele Lehrer dazu auf, die Kinder "nichtdeutscher Herkunftssprache" gleichmäßiger auf die Schulen zu verteilen. Doch ließ und lässt sich diesem Wunsch nicht durch Zwang entsprechen, da der Gesetzgeber in der Bundesrepublik keine Höchstquote für ausländische Schüler vorgesehen hat, die in der Regel auch deshalb die leistungsschwächsten sind, weil sie in ihren Klassen zu oft die Mehrheit stellen. Sollte eine in Berlin-Kreuzberg lebende türkische Mutter trotzdem vor Gericht ziehen, wie es in den Niederlanden bereits 2000 geschehen ist? Die Klägerin dort wollte vor allem ein immer brisanter werdendes Problem in die Öffentlichkeit bringen.

Jede ethnische Gruppe bekommt ihr Eigenes im Fremden zugewiesen

Als die Beschwerde laut wurde, regierte in Den Haag noch ein linksliberales Kabinett, und keiner im Land konnte sich ernsthaft eine Alternative zum Konsensmodell von Ministerpräsident Wim Kok vorstellen. Die Niederlande galten als Muster-Gesellschaft des toleranten Zusammenlebens. Auf politischer Ebene entsprach der Regierungschef diesem Anspruch durch sein Lila-Bündnis, das linksgerichtete Sozialdemokraten und rechtsorientierte Liberale als Pole bei divergierenden Auffassungen immer eine Mittelweg finden ließ, mit dem scheinbar jeder leben konnte. Zusehends offenbarte sich damit realitätsfernes Wunschdenken, besonders im Erziehungswesen.

Im Grundschulunterricht hatte die "Segregation" zwischen 1998 und 2001 um 55 Prozent zugenommen, wie eine Studie 2002 zeigte. Das Fremdwort für die "Absonderung einer Menschengruppe aus gesellschaftlichen Gründen" bedeutete in diesem Fall, dass immer mehr Kinder ausländischer Herkunft in Klassen unterrichtet wurden, in denen es nur mehr wenige bis gar keine holländischen Mitschüler gab. Als Erklärung für diesen Trend reichte nicht aus, bloß auf die wachsende Zahl von Einwandererkindern in den Städten zu verweisen. Hauptsächlich war er dadurch verursacht, dass die niederländischen Eltern ihre Kinder schnell aus einer Schule entfernten, wenn die ihnen "zu durchmischt" erschien.

Diese Tendenz zur "weißen Flucht" kam nicht trotz, sondern gerade wegen des holländischen Toleranzmodells zustande. Kaum anders kann man jedenfalls den Soziologen Ruud Koopmans verstehen, der 2002 im NRC Handelsblad die Integrationspolitik des Landes scharf kritisierte: "Auf dem Papier sieht sie tolerant aus, aber in der Praxis wird das Zurückbleiben der Immigranten noch unterstützt." Koopmans monierte ein "ideologisch erstarrtes Denken", das jeden Neuankömmling in eine Nische abdränge. "Jede ethnische Gruppe bekommt ihren eigenen Unterricht, ihr eigenes Radio, ihr eigenes Fernsehen." Sie bekommen ihr Eigenes im Fremden zugewiesen. Bei dieser Art von Toleranz handelt es sich in Wahrheit wohl um eine politisch korrekte Verpackung abgeschotteter Gleichgültigkeit gegenüber Einwanderern. Das Resultat sind Viertel, in denen die Gastarbeiter fast völlig unter sich sind (allein im Rotterdamer Stadtteil Delfshaven leben etwa 69 Prozent Ausländer), und Kinder, die Schulen besuchen, in denen sie untereinander alle möglichen Sprachen sprechen - nur nicht Niederländisch.

"Pim Fortuyn hat Holland auf jeden Fall wach gerüttelt", sagt der Soziologe Koopmans. Die stetige Zunahme der sogenannten "schwarzen Schule" war im Frühjahr 2002 wahrscheinlich sogar mit entscheidend für die 17 Prozent Stimmen der Liste Pim Fortuyn (LPF). Der charismatische Populist hatte mit seinem Vorschlag, den Minderheitenschutz abzuschaffen, das Land in eine hitzige Debatte verwickelt, weil er den wunden Punkt des "Laissez-Faire-Modells" berührte. Laut Umfragen hielt die Hälfte der Niederländer die "zwarte scholen" für ein großes Problem und war nicht bereit, das eigene Kind auf eine solche - eine Schule mit mindestens 50 Prozent Ausländeranteil - zu schicken. Man fürchtete, dass in 25 Jahren "alle Schulen schwarz" seien. Eine junge Frau meinte in der Zeitung de Trouw, der kurz vor der Wahl am 6. Mai 2002 ermordete Fortuyn sei stark geworden, weil sich die Politiker lange nicht um das Anwachsen der "zwarte scholen" gekümmert hätten. "Was ist mit unserem Unterricht los, wenn man Basisschulen sieht mit lauter Kopftüchern und farbigen Kindern und wenig Niederländern?"

Rund 580 solcher Grundschulen gibt es inzwischen im ganzen Land - doppelt so viel wie 1985. Hinzu kommt, dass heute viele "zwarte scholen" von der Schließung bedroht sind. Nicht nur das Phänomen der "weißen Flucht" bewirkt, dass in gemischten Lehranstalten die Schüler weniger und "schwärzer" werden - auch ausländische Eltern sind immer weniger bereit, ihre Kinder in Schulen zu schicken, in denen sie sich zumeist schlecht entwickeln. So musste vor kurzem in Utrecht die erste "zwarte schol" - das Niels-Stensen-College - wegen Schülermangels schließen.

Kann man Gesetze erlassen, die sich auf Rassenunterschiede berufen?

Dies brachte die linksliberale Partei D 66 dazu, die Utrechter zu einer Unterrichtsdebatte einzuladen. Man wolle gemeinsam überlegen, ob "spreidingsbeleid" eine mögliche Lösung sei - eine "Verteilungs-Politik". In den Niederlanden dürfen nämlich Schulen Bewerber ablehnen, wenn diese ihre Grundsätze - etwa den christlichen Glauben - nicht teilen. Gegen dieses Recht ist Roger van Boxtel, der von D 66 gestellte Minister für Integrationspolitik, lange - erfolglos - angelaufen. Seiner Meinung nach verhindert dieses Privileg den Zugang von Kindern zumeist finanzschwacher Ausländer zu den Eliten und begünstigt zudem das Anwachsen der "schwarzen Schulen".

D 66 wurde jedoch nach den Parlamentswahlen im Vorjahr zunächst einmal aus der Regierung geworfen, als die Liste Pim Fortuyn (LPF) zusammen mit den Rechtsliberalen der VVD Jan Peter Balkenende von den Christdemokraten (CDA) zum neuen Ministerpräsidenten machte. Dessen Partei hatte sich in ihrer Erziehungspolitik stets klar von den Linksliberalen abgegrenzt - die Christdemokraten wollten homogene Gruppen in homogenen Schulen unterrichten lassen. Allerdings regierte Balkenendes Kabinett nur wenige Monate, bis wegen der von wüsten Diadochenkämpfen geschüttelten LPF die rechtskonservative Koalition zerbrach. Neuwahlen im Januar brachten den Rechtspopulisten, die ohne ihren Parteichef nur ein ungeschicktes "Ausländer raus!" zu artikulieren vermochten, eklatante Stimmenverluste (von 17,0 auf 5,7 Prozent). Nach monatelangen Verhandlungen gibt es nun seit Mai erneut einen Premier Balkenende, der mit den Linksliberalen der D 66 und den Rechtsliberalen der VVD koaliert.

Für die "zwarte scholen" könnte diese Konstellation aber bedeuten, dass alles bleibt, wie es ist - im Stil des Konsensmodells von Wim Kok. Der junge Regierungschef - Jan Peter Balkenende ist Professor für christliche Ethik - sucht auf vielen Politikfeldern zwar die Konfrontation mit der Vergangenheit, im Hinblick auf das Schulwesen aber wird er seinen Koalitionär D 66 wohl schonen müssen. Die Partei favorisiert nach wie vor ein Vorgehen, das "schwarze Schulen" mit der Kraft des Gesetzes zurückdrängt. Dabei soll es nicht damit getan sein, dass "weiße", christliche und oft elitäre Schulen Ausländer aufnehmen müssen. Man möchte vereinzelt sogar soweit gehen, allen Schulen im Land zu verbieten, mehr als 30 Prozent "Zugereiste" in der Klasse zu haben. Vorbild für dieses Modell ist die belgische Region Flandern, in der ein solches Gesetz bereits erlassen wurde. Kritiker meinen, man habe in den liberalen Niederlanden aber nicht das Recht zu Reglementierungen, die sich letztlich auf Rassenunterschiede berufen würden.

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