Der Ansturm war groß: In den ersten fünf Tagen nach dem Start der Beta-Version der Deutschen Digitalen Bibliothek (DDB) Ende November riefen die Pioniernutzer 3,6 Millionen Seiten ab. Zuvor hatte die Politik bei der Präsentation der Webseite im Alten Museum in Berlin mit großen Worten nicht gespart. Matthias Harbort, Referatsleiter beim Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien, sprach von einem „Jahrhundertwerk“, um das nationale Erbe zu bewahren. Damit verknüpft sei das medienpolitische Ziel, die Chancen der Digitalisierung möglichst allen zu öffnen und so zur Meinungs- und Willensbildung in der Demokratie beizutragen.
Das neue Zugangsportal zu Kultur und Wissen bietet zunächst Zugriff auf etwa 5,6 Millionen Datensätze. Sie stammen aus rund 90 Kultur- und Wissenschaftseinrichtungen wie Museen, Archiven oder Bibliotheken. Es ist vorgesehen, dass sich insgesamt bis zu 30.000 Institutionen an dem Netzwerk beteiligen. Darüber hinaus soll es Nutzern möglich sein, über die DDB private Sammlungen von Gemälden, Schmuck oder Alltagsgegenständen der Allgemeinheit zugänglich zu machen.
Freier Zugang zu Millionen von Büchern, Bildern, Tondokumenten, Filmen und Noten: Das ist das große Ziel der DDB. Bereits jetzt können neben Kunstwerken und Gemälden etwa Stummfilmklassiker wie Hamlet mit Asta Nielsen genauso genossen werden wie alte, ursprünglich auf Schellackplatten veröffentlichte Aufnahmen von Bachs Weihnachtsoratorium.
Neue Suchfunktionen
Wenn alles nach Plan verläuft, geht die Vollversion der DDB in einem Jahr ins Netz. Dann werden, anders als in der Beta-Version, zusätzliche Formen der Präsentation, Suche und Verarbeitung von Objekten möglich sein. Die automatische Darstellung von verborgenen inhaltlichen Bezügen zwischen einzelnen Objekten soll auch Überaschungsfunde ermöglichen. Schon heute werden Verbindungen deutlich, die in den Angeboten einzelner Institutionen, die unter dem Dach der DDB zusammengefasst werden, selbst nicht sichtbar würden: Wer nach Bachs Weihnachtsklassikern sucht, erhält in der Trefferliste sowohl Verweise auf einzelne, in der Originalhandschrift des Meisters geschriebene Kantaten als auch auf aktuelle Notenwerke.
Um den Nutzern gezielt ähnliche Objekte anbieten zu können, die sich mit einem bestimmten Thema befassen oder mit einem Ort in Zusammenhang stehen, sollen künftig sogenannte Normdaten eingesetzt werden. Mit deren Hilfe kann der Suchalgorithmus automatisch Synonyme oder Homonyme auseinanderhalten und erkennen, ob mit „Golf“ ein Auto, eine Sportart oder eine Meeresbucht gemeint ist.
Echtes Neuland betritt die DDB mit semantischen Recherche- und Navigationsfunktionen in einem derart komplexen Umfeld: Bisherige Lösungen basieren in der Regel lediglich auf Bestandsdaten einer einzelnen Einrichtung.
Konzipiert ist die DDB als sogenanntes Indexportal: Sie beinhaltet lediglich grobauflösende Vorschaubilder der eigentlichen Objekte. Für die Detaildarstellung beziehungsweise das eigentliche Werk wird zu den Webseiten der jeweiligen Stand- oder Lagerorte übergeleitet.
Technischer Betreiber der zentralen Infrastruktur ist das Fachinformationszentrum (FIZ) Karlsruhe. Die DDB läuft dort auf zwei System-Strängen, die in räumlich getrennten Rechenzentren untergebracht sind: Eine Maßnahme, mit der man den hohen Ansprüchen an Leistung und Verfügbarkeit gerecht werden will. Darüber hinaus unterstützt das FIZ die Kultur- und Wissenschaftseinrichtungen bei der technischen Aufbereitung und Angleichung ihrer zum Teil sehr verschiedenformatigen Daten für die Aufnahme in die DDB.
Für den Aufbau der DDB hat der Bund bislang rund 8,5 Millionen Euro zur Verfügung gestellt; für die Operationsfähigkeit hat er gemeinsam mit den Ländern bis Ende 2012 weitere 7,8 Millionen Euro ausgegeben. Bis 2016 sind 2,6 Millionen Euro jährlich für den Betrieb zugesichert, dann soll eine erste Evaluation erfolgen. Für die Fortentwicklung bis zur Vollversion lässt der Bund eine weitere Million sowie für Sonderprojekte zur Digitalisierung vier Millionen springen. Nach Ansicht des Deutschen Bibliotheksverband (dbv) sind in den kommenden fünf Jahren wahrscheinlich zusätzliche zehn Millionen Euro jährlich nötig, um allein die Bestände der Mitglieder angemessen in Bits und Bytes umzuwandeln.
Ein neues Urheberrecht
Die DDB fungiert auch als nationale Schnittstelle für die Europeana – das Gegenstück der DDB auf europäischer Ebene. In die 2008 ins Leben gerufene europäische digitale Bibliothek stellen Institutionen aus mittlerweile 35 europäischen Staaten ihre Schätze ein. Mittlerweile sind in ihr mehr als 20 Millionen digitale Objekte vertreten. Mit einem Beitrag von knapp 3,5 Millionen Verweisen ist Deutschland derzeit der größte Teilnehmer bei dem Projekt.
Engpässe gibt es immer noch beim Urheberrecht. „Bisher können wir nur gemeinfreie Werke präsentieren“, so Hermann Parzinger, Präsident der Stiftung Preußischer Kulturbesitz und Vorstandssprecher des DDB-Kompetenznetzwerks. Dringend nötig sei die Umsetzung der EU-Richtlinie zu verwaisten Werken.
Laut der Regelung dürfen Schöpfungen, deren Urheber nicht mehr ausfindig zu machen sind, künftig für nicht-kommerzielle Zwecke im Internet verwendet werden. „Die DDB wirklich voranbringen im Urheberrecht würde eine sogenannte Katalogbildschranke für das digitale Umfeld“, meint Ellen Euler aus der DDB-Geschäftsstelle. Während im analogen Umfeld auf der Grundlage der „Katalogbildschranke“ Bestände etwa von Museen selbst dann bildlich dokumentiert werden können, wenn an den abgebildeten Werken noch Rechte bestehen, gilt das nicht für das digitale Umfeld. Hier könnte man über eine Anpassung der Urheberrechte nachdenken.
Die DDB-Macher hoffen außerdem darauf, dass die „Open Access“-Bewegung in der Wissenschaft, die für den kostenfreien Zugang zu Forschungsergebnissen im Internet streitet, sich weiter durchsetzt: Publikationen, die mit den entsprechenden Lizenzen ausgestattet sind, sind auch für die DDB als Inhalt interessant.
Bleiben mit dem Abwandern der Werke in die digitale Welt die Besucher den Sammlungen vor Ort fern, so dass diese bald den Besucherbetrieb einstellen können? Stiftungs-Präsident Parzinger glaubt das nicht. Für ihn ist das Online-Angebot eine „zeitgemäße Ergänzung“: „Die Aura des Originals wird man nie ersetzen können durch das Digitalisat.“ Außerdem: Die Inhalte der DDB sind für alle Nutzer deutlich sichtbar mit dem physischen Standort der Originale verknüpft. Insofern trägt das digitale Angebot auch dazu bei, dass die Sammlungen und Kultureinrichtungen, die diese Originale beherbergen, an Bekanntheit gewinnen.
Stefan Krempl schreibt als Kulturwissenschaftler und freier Autor zu digitalen Themen. 2007 erhielt er den Publizistenpreis des Deutschen Bibliotheksverbandes
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