Die Häuser sind in hellem Ocker gestrichen, die Vorgärten gepflegt, auf der Straße kennt und grüßt man sich. Dinslaken-Lohberg ist ein freundlicher, ein schöner Stadtteil. Hier sammelte Mohammed K. in seinem Bildungsverein Jugendliche um sich, impfte ihnen Hass und Fanatismus ein – und schickte sie als „Brigade Lohberg“ für den Islamischen Staat (IS) in den Krieg nach Syrien und in den Irak.
Dinslaken-Lohberg gehört nicht zu den heruntergekommensten Siedlungen des an Problemvierteln nicht eben armen Ruhrgebiets. Gemeinsam mit der Zeche Lohberg, die dem Quartier seinen Namen gab, entstand die Siedlung in der Tradition der englischen Gartenstädte: Jedes Haus unterscheidet sich vom anderen durch gestalterische Details, mal ist ein Giebel anders gesetzt, mal befindet sich ein Eingang an einer anderen Stelle. Hinter den Häusern liegen Gärten. Die Siedlung wurde, wie viele andere im Revier auch, über die vergangenen Jahre aufwendig renoviert.
Die Zeche, die dem Stadtteil 100 Jahre lang Arbeit gab, schloss vor zehn Jahren. Bagger arbeiten sich heute durch das Gelände, Altlasten werden entsorgt. Wenn alles einmal fertig ist, sollen hier in einem Gewerbegebiet neue Jobs entstehen. In den alten, gut erhaltenen Bürogebäuden des einstigen Bergwerks haben sich schon die ersten Künstler niedergelassen, es gibt Ateliers, Galerien und ein Tanzstudio.
Einst besorgten die Familienväter hier ihren Söhnen einen Ausbildungsplatz in der Zeche. Die Arbeit unter Tage war hart und wurde gut bezahlt. Diese Stellen fehlen heute in Lohberg. Aber besonders dramatisch ist die Lage auf dem örtlichen Arbeitsmarkt nicht. Dinslaken hat eine Arbeitslosenquote von 7,5 Prozent – für Ruhrgebietsverhältnisse außergewöhnlich niedrig. In Lohberg sucht nur jeder Zehnte einen Job. „Nur“ muss man sagen, weil man in Städten wie Dortmund oder Duisburg von solchen Zahlen träumt.
Peter Psiuk steht vor dem Haus des ehemaligen Ledigenvereins und raucht eine Zigarette. Früher haben hier alleinstehende Bergleute gewohnt, heute sind kleine Firmen und Initiativen in dem Gebäude untergekommen. Auch der Bildungsverein von Mohammed K. hatte sich hier eingemietet. Der Verein war die Tarnung der Lohberger Dschihadisten, und Psiuk, ein Nachbar, kannte einige von ihnen persönlich: „Die waren als Kinder nette Jungs, so wie alle anderen auch.“ Viele Artikel habe er über Lohberg in den Zeitungen gelesen, seit bekannt wurde, dass mehr als 20 junge Männer hier eine militante Zelle gebildet hatten. „Man kann hier um jede Uhrzeit auf die Straße gehen, ohne Sorgen zu haben. Lohberg ist kein Slum“, sagt Psiuk.
Als die „netten Jungs“ älter wurden, hätten sie mit dem Herumlungern angefangen. „Hier gab es nichts für sie. Sie hatten keine Arbeit, es gab keine Freizeitangebote. Niemand hat sich um sie gekümmert.“ Zu Zeiten, in denen die Zeche noch lief, seien „die Halbstarken“ irgendwann von der Straße geholt worden und hätten Arbeit bekommen. „Dann hatten sie was zu tun und gründeten schnell eine Familie.“
Auch die Jungs, die früher einmal „nett“ waren, wurden irgendwann von der Straße geholt. Aber eben nicht von der Zeche, sondern von Mohammed K.. Dessen Vater gilt als ein echtes Lohberger Urgestein, er ist ein türkischstämmiger, liberaler Muslim, beliebt und anerkannt. Wenn Jugendliche ihre Freizeit mit dem jungen K. verbrachten – zumal in einem sogenannten Bildungsverein – klang das für viele in Lohberg erst einmal gut. Als der Verein sich 2012 als Mieter des ehemaligen Ledigenheims anbot, fragte der Vermieter erst beim Staatsschutz nach, ob mit dem Verein auch alles in Ordnung sei. Die Behörden, darunter auch die örtliche Polizei, signalisierten, es gebe keine Bedenken.
Was sie nicht wussten: K. war nach Einschätzung des Verfassungsschutzes in Nordrhein-Westfalen (NRW) nur ein Strohmann, ein Aushängeschild, um im Stadtteil Vertrauen zu gewinnen. Hinter ihm standen Männer mit Kontakten zum IS. Der Bildungsverein diente als Treffpunkt für junge Männer aus dem ganzen Ruhrgebiet und vom Niederrhein. Hier wurden sie gezielt radikalisiert, K. erfüllte seinen Strohmannjob bestens.
Ein radikaler Strohmann
Zu dem guten Dutzend junger Männer, die sich über die Brigade Lohberg dem IS anschlossen, gehörte auch Philip B.. Er hatte zuvor als Pizzabote gearbeitet. Nach seinem Übertritt zum Islam nannte er sich Abu Usama al-Almani. Bei einem Selbstmordattentat ermordete er 21 Iraker. Der Tod dreier weiterer Gruppenmitglieder wurde Anfang dieses Jahres bekannt: Hasan D., Marcel L. und Mustafa K. Letzterer hatte im Februar 2014 die Öffentlichkeit mit Fotos schockiert, die in der syrischen Stadt Azaz aufgenommen worden waren. Er posierte mit abgetrennten Köpfen.
Ein anderes Mitglied, ein Cousin des Selbstmordattentäters Philip B., stammt aus dem benachbarten Voerde. Nils D. heißt er, und er wurde Anfang Januar in Dinslaken von einem Sondereinsatzkommando der Polizei festgenommen, als Syrienheimkehrer. Die Staatsanwaltschaft wirft ihm die Mitgliedschaft in einer ausländischen Terrorvereinigung vor.
„Vier Mitglieder der Brigade Lohberg sind tot, vier sind traumatisiert und desillusioniert zurückgekehrt“: So fasst ein Sprecher des NRW-Verfassungsschutzes den Stand zusammen. Salafisten gäbe es immer noch in Lohberg, aber sie seien inzwischen deutlich weniger aktiv. „Die Stadt engagiert sich dort jetzt stärker mit Sozialarbeitern.“ Außerdem sei der Bildungsvereinsleiter Mohammed K. aus der Stadt verschwunden: „So eine Gruppe hängt auch immer von einem ab, der die Menschen verführt und der ist nicht mehr da.“ Gerüchte, Mohammed K. halte sich jetzt im benachbarten Duisburg auf, bestätigt der Verfassungsschutz nicht: „Das ist unseres Wissens nicht sein momentaner Aufenthaltsort.“
Um die vier Rückkehrer hat sich anfangs der Kinderschutzbund Dinslaken-Voerde gekümmert. Aber das sei nun vorbei, sagt Volker Grans, der Geschäftsführer. Insgesamt seien fünf junge Männer aus Lohberg im Krieg in Syrien und im Irak gewesen; vier von ihnen seien als Gruppe gereist und 2013 wieder zurückgekommen. „Die waren alle nur sehr kurz im Irak. Insgesamt waren sie nur gut fünf Wochen weg, und die meiste Zeit hielten sie sich in der Türkei auf.“
Lange Gespräche habe es mit den Jugendlichen gegegeben, die traumatisiert aus dem Krieg zurückgekommen und dort keine „aktiven Kämpfer“ gewesen seien. Der Kinderschutzbund hat ihnen bei der Suche nach Jobs und Ausbildungsplätzen geholfen. Mit Erfolg: Alle fünf haben heute eine Arbeit, einer wird bald Vater. Nein, sagt Grans, man würde sie nicht erkennen, wenn sie durch den Stadtteil gingen: „Das sind wieder ganz normale junge Männer, die tragen keine langen Bärte und Kampfjacken, und sie sind auch keine radikalen Salafisten mehr.“ Er sei sich noch nicht einmal sicher, ob sie überhaupt noch regelmäßig eine Moschee besuchten.
Floss etwa Geld für die Jungs?
In Dinslaken erzählt man sich, die Rückkehrer seien von ihren Familien freigekauft worden. Grans hält das für Unsinn: „Die stammen alle aus Familien, die wenig Geld haben. Die könnten sich das gar nicht leisten“ Von Freikäufen weiß auch der Verfassungsschutz nichts. Einmal, sagt ein Sprecher, sei ein Mann aus Dinslaken nach Syrien gereist, um seinen Bruder von dort zurückzuholen. Ob dabei aber Geld geflossen sei, das wisse man nicht.
Niemand in Lohberg macht sich, so scheint es, Sorgen wegen der Rückkehrer. Eine Mitarbeiterin der örtlichen Apotheke lacht, wenn man sie fragt, ob sie Angst habe: „Nein, warum auch? Dafür gibt es keinen Grund.“ Auch Horst Dickhäuser, der Sprecher der Stadt, glaubt nicht, dass von den ehemaligen IS-Gefolgsleuten eine Gefahr ausgeht: „Die wollen nur noch ihre Ruhe. Wir hoffen sogar, dass sie uns helfen, andere Jugendliche davon abzuhalten, in den sogenannten Heiligen Krieg zu ziehen.“ Die meisten Salafisten, das bestätigt auch der Verfassungsschutz NRW, seien friedlich und würden lediglich ein streng religiöses Leben führen.
Aber es gibt eben auch andere. Pierre Vogel und Sven Lau zum Beispiel, die wohl prominentesten Vertreter des politisch-radikalen Salafismus in Deutschland. Sie werben bundesweit etwa mit dem Verteilen von Koranbänden in Fußgängerzonen für ihre Sache. Pierre Vogel nutzt auch Facebook häufig und erklärt gern in launigem, rheinischem Dialekt den Koran. Sven Lau sorgte für Schlagzeilen, als er im Sommer mit einer „Scharia-Polizei“ durch Wuppertal zog um junge Muslime von Alkohol, Zigaretten und Glückspiel abzubringen. Was gesichert erscheint: Alle Militanten, die von Deutschland aus in den Dschihad ziehen, hatten vorher Kontakte zu politischen Salafisten wie Lau und Vogel – aber nur ein kleiner Teil der politischen Salafisten zieht tatsächlich in den bewaffneten Kampf.
Ja, vor dem Ledigenheim in Lohberg hätten oft Autos mit auswärtigen Nummernschildern gestanden, sagt Stadtsprecher Dickhäuser. Es gebe auch Gerüchte, nach denen Pierre Vogel öfters am Ort gewesen sein soll. Aber: „Dinslaken ist keine Stadt, in der der Hass zu Hause ist.“ Tatsächlich gibt es in der 70.000-Einwohner-Stadt etliche Integrationsprojekte, das Miteinander verschiedenster Kulturen funktioniere hier von jeher recht gut, sagt Dickhäuser.
Für Burhan Cetinkaya, den Integrationsbeauftragten Dinslakens, ist indes klar, warum die fünf Jugendlichen auf Mohammed K., den Hassprediger mit Terrorkontakten, hineinfielen: „Wer in Lohberg wohnt und einen türkischen Vornamen hat, hat ein Problem. Michael hat es bei gleichen Noten noch immer leichter einen Ausbildungsplatz zu bekommen als Mehmet.“ Die Jungs hätten gespürt, dass sie nicht so behandelt wurden wie Jugendliche ohne türkische Namen, dass man sie ausgrenzte. Dass sie hier geboren wurden und Deutsch sprechen, habe niemanden interessiert. „In der Gruppe fanden sie endlich Anerkennung. Da reichte es fromm zu sein, es gab klare Regeln und auf alles eine einfache Antwort.“ Auch für Konvertiten ohne Migrationshintergrund sei das attraktiv gewesen. „Auch die gehörten nicht zu den beliebten und anerkannten Jugendlichen der Stadt.“
Heute, da sind sich die Stadt und der Verfassungsschutz einig, gebe es in Dinslaken keine aktive Dschihadistenszene mehr. Beziehungsweise werde die, die übrig ist, überwacht. Und nicht nur das – es wird künftig auch stärker präventiv gearbeitet. Das NRW-Projekt Wegweiser, das auch in Bochum, Düsseldorf und Bonn tätig ist, will Jugendliche davor bewahren, in die „Gotteskrieger“-Szene zu rutschen. Muslimische Geistliche unterstützen das Vorhaben. Junge Leute, die gefährdet erscheinen, werden angesprochen, etwa bei Problemen mit den Eltern oder der Schule, ihnen werden auch konkrete Hilfen für den Berufseinstieg angeboten. Oft bleibt für all das nur wenig Zeit. Bei Wegweiser sind Fälle bekannt, in denen es nur sechs Wochen dauerte, bis ein Jugendlicher nach dem ersten Kontakt mit Salafisten in den Krieg zog, ohne dass die Eltern von der Wandlung ihres Kindes etwas mitbekommen hatten.
Nach den Anschlägen von Paris kamen alle örtlichen Religionsgemeinschaften zusammen zu einer Demonstration unter dem Motto „Dinslaken wehrt sich gegen Hass und Gewalt“. Die Stadt ist noch einmal enger zusammengerückt, seitdem einige ihrer Kinder zu Terroristen wurden. Der Schock sitzt tief, in Dinslaken, am Westrand des Ruhrgebiets.
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