Die Mühsal der Eigenverantwortung

Die andere Globalisierung Es ist so einfach, wenn das "Ich" sich in den warmen, wohligen Schoss eines "Wir" begibt. Sich ihm überantwortet, um sich der Mühsal der Eigenverantwortung zu entledigen

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Die Mühsal der Eigenverantwortung

Foto: Adrian DENNIS/AFP/Getty Images

Im August 1975 kam es in Erfurt zu gewalttätigen Übergriffen auf algerische Vertragsarbeiter. Ein fremdenfeindlicher Vorfall, der von der Führung der DDR ebenso unter den Tisch gekehrt wurde wie der Mord an zwei Kubanern in Merseburg 1979 und all die anderen Taten, die sich dort in den 70er und 80er Jahren ereigneten. Es konnte ja nicht sein, was nicht sein durfte. Schließlich baute man in internationaler Solidarität gemeinsam am großen proletarischen Projekt „Sozialismus“. Und da hatte man längst jene völkisch-atavistischen Denk- und Verhaltensstrukturen überwunden, die dem kapitalistischen Bruder im Westen noch zu eigen waren.

Denkste. Wo keine selbstkritische Aufarbeitung stattfindet, kann auch nichts überwunden werden. Das Gegenteil war der Fall: Diese Denk- und Verhaltensstrukturen überlebten und manifestierten sich in weiten Teilen der Bevölkerung unterhalb der Wahrnehmungsgrenze. Dort schlummerten sie so lange, bis sie sich bei nächster Gelegenheit Bahn brachen. So 1991, kurz nach der Wende, „als Rechtsextreme in Hoyerswerda Brandsätze auf Migranten schleuderten“ und „Hunderte ihnen zujubelten“, wie David Krenz im „Spiegel“ berichtet.

Deutschland den Deutschen! Kanakenviehzeug!“ Die damaligen Rufe klingen nicht viel anders als heute, 25 Jahre später. Doch war und ist der blinde Hass, diese Angst vor „Überfremdung“ und „schrankenloser Überschwemmung durch Migranten“ angesichts nur weniger Ausländer in den neuen Bundesländern schon rein rechnerisch völliger Mumpitz. Eine Tatsache, die vermuten lässt, dass eine solch identitäre Grundstimmung, der Wille nach Bewahrung einer ethnisch reinen und kulturell homogenen Gemeinschaft, von der Faktenlage völlig losgelöst ist. Damals wie heute.

Neben dieser irrationalen Angst vor Überfremdung hat sich verstärkt eine persönlich empfundene Bedrohung jedes Einzelnen ausgebildet, eine Angst um das gewohnte Umfeld, um die Bewahrung der Lebensqualität und der vertrauten Werte.

Dies gibt der Kontinuität der völkischen Haltung eine befremdlich seriöse Erdung, eine vermeintliche Rechtfertigung für die Rückbesinnung auf den Zusammenhalt der deutschen Gemeinschaft, auf die Berufung auf eine Identität. Die aber natürlich exklusiv vertreten wird: „Wir sind das Volk!“

Da geht es um Zugehörigkeit, Geschlossenheit, Einheit. Und damit um Ausgrenzung. Abschottung. Reinhaltung. Die, betrachtet man die Kehrseite der Medaille, nichts anderes bedeutet als Diskriminierung Andersdenkender sowie fremder Ethnien und Kulturen: Sprachlich schön weichgespült tritt hier unter dem Deckmantel der Homogenität auf, was de facto kategorische Ablehnung aller widerstrebenden Meinungen und schiere Fremdenfeindlichkeit ist.

Der Schritt von der Feindlichkeit allem Fremden gegenüber, der Ablehnung alles Undeutschen zur Wahrung der eigenen, Frauke Petry nennt es heute ganz unverblümt und völlig ungeachtet der historischen Konnotation: völkischen Identität, hin zum unbedingten, heroisierenden Glauben an die eigene ethnische und kulturelle Überlegenheit, ist klein.

Die unterschwellige Kontinuität der Ansichten vom Dritten Reich bis heute ist erschreckend. Insbesondere in den neuen Bundesländern, aber durchaus auch in den alten. Da wird Arnold Gehlen wieder rezipiert, als wäre nie was gewesen. Carl Schmitt ebenso. Oder auch Oswald Spengler. Peter Sloterdijk bemerkt in seiner rhetorischen Selbstverliebtheit gar nicht, wohin es ihn treibt. Sein Famulus Marc Jongen ist da schon ehrlicher und als Haus- und Hofvordenker längst auch offiziell bei der AfD angekommen. Und Armin Mohler, „Schlüsselfigur bei der Reorganisation der äußersten Rechten in der Bundesrepublik“, so Volker Weiß in der „ZEIT“, feiert fröhlich völkische Urständ in der Pegida-Bewegung.

Was geht hier vor?

Man gewinnt zunehmend den Eindruck, dass es sich bei der vielzitierten 'Besorgnis' der Bürger um ein Phänomen handelt, das deutlich komplexer ist als es scheint. Und weit weniger auf einer politischen denn eher auf einer psychologischen Ebene angesiedelt ist:

Die ökonomischen Eckdaten Deutschlands belegen, dass die Lage, im internationalen Vergleich, de facto ausgezeichnet ist. Unsere politische Stabilität sucht weltweit ihresgleichen. Die Diskussion um die Obergrenze der Flüchtlinge nimmt absurde Züge an, da die aktuellen monatlichen Zahlen zeigen, dass wir, umgerechnet aufs Jahr, nicht annähernd besagte Obergrenze erreichen werden. Die Angst um die Werte des christlichen Abendlands ist ausgerechnet dort am größten, wo aufgrund einer staatlich verordneten Säkularisierung seit 1945 das Christentum aus dem öffentlichen wie auch privaten Leben fast gänzlich verschwunden ist. Und der Teufel in Gestalt des muslimischen Flüchtlings wird vor allem da an die Wand gemalt, wo kaum je ein Flüchtling gesichtet wurde.

Hier wird also subjektiv zunehmend etwas als Bedrohung empfunden, was einer objektiven Entsprechung entbehrt. Und das scheint das eigentliche Problem und damit die größte Gefahr zu sein: Es gibt die Bedrohung nicht als Faktum, nur als Fiktion. Weil diese Fiktion aber als wahr wahrgenommen wird, ist sie für den ‚besorgten Bürger’ auch wahr. Und damit für ihn Faktum.

Wie aber ein Problem lösen, das, zumindest in dieser dramatisch überzeichneten Form, nicht rational zu begründen ist, sondern nur subjektiv empfunden wird? Die Hunderttausenden von Emigranten aus den ehemaligen Ostblockstaaten, die nach dem Zusammenbruch des Warschauer Paktes nach Westeuropa und da insbesondere nach Deutschland strömten, haben unseren Staatshaushalt deutlich stärker belastet als der "Migrationstsunami", der heute heraufbeschworen wird. Von den Sozialleistungen für Spätaussiedler, von Eingliederungshilfe über Rentenanspruch bis zur einmaligen Entschädigung, und dem Anspruch auf einen deutschen Pass ganz zu schweigen.

Ja, in Deutschland liegt vieles im Argen, wie Harald Welzer in einem Beitrag für den „Spiegel“ noch einmal ausdrücklich betont, so „skandalöse Bildungsungerechtigkeit, Kinderarmut, ausufernder Lobbyismus, um das Gemeinwohl unbesorgte Teil des Top-Managements, Vertrauensverluste gegenüber den Parteien, sinkendes Systemvertrauen, Überwachung“ und anderes mehr. Alles Dinge, die aber rein gar nichts mit der Flüchtlingsproblematik zu tun haben.

Hieraus speist sich jedoch insbesondere in den westlichen Bundesländern ein allgemeines Unbehagen, das schon lange unter der Oberfläche gärt – bereits 1992 erklärte die Gesellschaft für deutsche Sprache „Politikverdrossenheit“ zum ‚Wort des Jahres’. Da ein solches Unbehagen immer den Weg des geringsten Widerstandes geht, setzt es auf altbekannte Schemata auf und sucht sich ein naheliegendes Ventil: Einen wehrlosen Gegner, der das ideale Opfer darstellt. Und eine Identität, die verbindet. Klare Verhältnisse, einfache binäre Zustände: Wir/ihr. Freund/Feind. Schwarz/Weiß. Geschlossene Gesellschaft, Zutritt verboten!

Es handelt sich dabei jedoch um ein Phänomen, das weit über die beiden Teile Deutschlands und ihre jeweiligen historischen Spezifika hinausweist. Es ist eines, das strukturell das Trumpsche Amerika ebenso betrifft wie das Orbansche Ungarn, das Wildersche Holland, die Erdogansche Türkei, aber auch den islamischen Extremismus im Westeuropa dieser Tage.

Hinter diesem vagen, kaum klar zu artikulierenden Unbehagen, das weltweit in unzähligen nationalen Ausprägungen erscheint und jeweils seine zum Teil abscheulichen Ventile sucht, scheint ein manifestes, grundlegendes Problem unserer Zeit zu stecken.

Der einflussreiche Soziologe Norbert Elias beschrieb den Prozess der Zivilisation, grob vereinfacht, so: In dem Maße, in dem wir unsere individuelle Freiheit gewinnen, müssen wir äußeren Zwang durch innere Kontrolle ersetzen. Das heißt, wir sind zunehmend zur Selbstverantwortung verpflichtet. Doch die ist mühsam, muss sie doch täglich in Eigenleistung neu erarbeitet werden. Da uns in unserer zunehmend globalisierten, im Zuge der Aufklärung so rationalisierten wie säkularisierten Welt mehr und mehr die liebgewonnenen ehernen Werte fehlen, die uns heilsgewisse Orientierung geben, leben wir in einer Zeit der Unverbindlichkeit, Ungewissheit und Unsicherheit.

Wir sind auf uns geworfen. Müssen unseren eigenen Werterahmen schaffen, ihn beständig abgleichen, vor anderen rechtfertigen, ihn modifizieren, sozial kompatibel machen. Und ihn morgen womöglich komplett über den Haufen werfen, weil sich wieder mal die Umstände ändern.

Nun sind aber, so Elias, „die ‚Umstände‘, die sich ändern, (...) nichts, was gleichsam von ‚außen‘ an den Menschen herankommt; die ‚Umstände‘, die sich ändern, sind die Beziehungen zwischen den Menschen selbst.

Dies, so hat es den Anschein, wird dem Menschen auf Dauer zu viel, zu kompliziert, zu anstrengend. Da ist es doch leichter und angenehmer, sich gleich in den warmen, wohligen Schoss eines wie auch immer gearteten "Wir" zu begeben. Sich ihm zu überantworten, um sich der Mühsal der Eigenverantwortung zu entledigen. Hier bin ich unter meinesgleichen, muss mich nicht mehr sonderlich anstrengen, vor anderen rechtfertigen. Sondern bekomme mundgerecht meine Ansichten zugeteilt, die ich zu haben habe, um wieder Teil eines großen Ganzen zu sein, in dem es vorgestanzte, für alle verbindliche Werte gibt – im Zweifelsfalle vorgesetzt von einer totalitären Autorität, die mir, gleichsam im zivilisatorischen Rückschritt wieder von ‚außen’ kommend, die Umstände, in denen ich zu leben habe, so definiert, dass sie mir absolut und ewig bestehend erscheinen.

Jedes Denken ist aber, wie der Soziologe Karl Mannheim betonte, notwendig perspektivisch. Und jede Weltsicht damit relativistisch, weil sie sich, je nachdem, welche Position man in einer Gesellschaft einnimmt, ändert. Wird eine dieser Sichtweisen jedoch verabsolutiert, so wird sie ideologisch. Und aggressiv gegen Widerstände, Andersdenkende, Fremde verteidigt. Wenn nötig, bis aufs Blut: Die Fahne hoch, die Reihen fest geschlossen. Das gilt für alle Reihen. Seien es nun islamistische, osmanische, völkische oder ganz allgemein nationalistische.

Dann ist kein Dialog mehr möglich. Denn der setzt voraus, dass man prinzipiell bereit ist, seinen Standpunkt im Dialog zu revidieren. „Wo Gewalt herbeigeredet, befürwortet, angewendet wird, da hilft nur die Durchsetzung des Rechts, kein Argument“, so Harald Welzer.

Das Argument ist zutreffend, gilt aber leider nur für den deutschen Rechtsstaat.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Stefan Oehm

Studium der Philosophie, Germanistik, Pädagogik; Schwerpunkt Linguistik. Ehemals Co-Geschäftsführer einer Galerie, heute Creative Director.

Stefan Oehm

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