Gutes Auge

SPORTPLATZ Es war unwahrscheinlich, alles sprach dagegen. Gut zwei Stunden lang hatte Tommy Haas Greg Rusedski kein einziges Aufschlagspiel abnehmen können. Wie ...

Es war unwahrscheinlich, alles sprach dagegen. Gut zwei Stunden lang hatte Tommy Haas Greg Rusedski kein einziges Aufschlagspiel abnehmen können. Wie eine Maschine hatte Rusedski beim Finale des Grand Slam Cups in München am letzten Sonntag seine Aufschläge mehr als zweihundert Stundenkilometer schnell in die Mitte genagelt oder als Slice auf die Rückhand gespielt. Und Haas hatte einfach kein Rezept dagegen gefunden. Auch bei scheinbar einfachen Returns auf zweite Aufschläge von Rusedski stand er stets ungünstig zum Ball und schlug ihn immer wieder knapp ins Aus oder an die Netzkante. Haas gelang es nicht, Rusedskis Aufschlag zu lesen: also vor dem Schlag zu wissen, ob er auf der Vor- oder Rückhand landen, ob der Ball angeschnitten oder gerade kommen würde.

Im vierten Satz führte Rusedski 5:3. Bei eigenem Aufschlag. Das Spiel war eigentlich vorbei. Doch Haas gelang plötzlich alles, was ihm vorher missriet. Er wählte stets die riskanteste Art zu antworten: einen verwegenen Passierball, einen Stopp in unmöglicher Lage. Mag sein, dass Rusedski so kurz vor dem Sieg plötzlich nervös wurde - doch vor allem machte Haas alles richtig. Er schien vorher zu wissen, wohin Rusedskis Aufschlag kam. Ein kleines Wunder. Haas gewann sein erstes Break zu null. Die Fähigkeit, den Aufschlag des Gegners zu lesen, zu antizipieren, was er gleich tun wird, ergibt sich aus genauer Beobachtung, aus der in Sekundenbruchteilen registrierten Bewegung des Gegners, die es ebenso schnell in eigene Bewegung umzusetzen gilt. Wie ist die Fußstellung des Gegners, wie hoch wirft er den Ball, wie dreht sich sein Körper in den Ball - aus diesen Informationen muss man blitzschnell die richtige Entscheidung treffen. Hinzu kommt ein gutes Gedächtnis: Welche Gewohnheiten hat der Gegner, in welcher Spielphase spielt er riskant, wann eher darauf bedacht, den Ball ins Spiel zu bringen? Doch um den Aufschlag wirklich zu antizipieren, braucht man mehr als Wissen, Erfahrung und Auffassungsgabe: nämlich jenes Sensorium, jene unerklärliche Intuition, die man nicht lernen kann. Kurzum: wie beim Boxen gilt es beim Return die Körpersprache des Gegners zu decodieren. Das Spiel gewinnt somit nicht nur, wer schneller laufen, härter schlagen und robuster mit Niederlagen umzugehen weiß, sondern auch, wer genauer wahrzunehmen versteht. In gewisser Weise sind dies beim Boxen wie beim Tennis Eigenschaften, die in enger Verwandtschaft zum Krieg stehen. Nicht nur das Schlachtfeld ist, wie Paul Virilio sagt, in erster Linie ein Wahrnehmungsfeld, auch auf dem Center Court gewinnt, wer präziser, schneller und komplexer wahrnimmt. Sport und Krieg haben nicht nur ähnliche Wurzeln, sie mobilisieren auch verwandte Energien.

Ein guter Tennisspieler vereint somit die körperlichen Talente eines Leichtathleten mit der Nervenstärke, der Gelassenheit und dem guten Auge eines Billardspielers. Tennis erfordert auch eine verdichtetere Form von Konzentration als beispielsweise Fußball. Bei jedem Aufschlag, jedem Return geht es um einen Punkt, der ein Baustein für jenen entscheidenden Schlusspunkt ist. Im Fußball kann man, wenn man den Gegner einmal unter Kontrolle gebracht hat und mit zwei, drei Toren führt, den Ball in den eigenen Reihen halten und das Tempo verschleppen. Beim Tennis hingegen gilt es bis zuletzt, jeden einzelnen Punkt zu erkämpfen. Der Gegner oder ich - das ist die agonale Struktur des Tennis. Das mag auch ein Grund für den Aufschwung des Tennissports in Deutschland sein - besser gesagt dessen Verwandlung von einem upper class Freizeitvergnügen in einen Massensport und einen Teil der globalen Unterhaltungsindustrie. Der enorme Popularitätsgewinn des Tennis fußte nicht nur auf den Erfolgen von Boris Becker und Steffi Graf. Im Tennisboom spiegelte sich auch eine Gesellschaft, die auf dem Weg von den Kollektiven (der Industriegesellschaft) zur Individualisierung (der Dienstleistungsgesellschaft) ist. Denn das Tennis der achtziger und neunziger Jahre ist nicht nur komplex, schnell und spektakulär; es ist auch das perfekte Medium, um die alte Geschichte vom Aufstieg des Einzelnen zu erzählen, der es fast ganz alleine schaffen kann. Durch Begabung, Ausdauer und vor allem Willenskraft.

Am Ende hatte Tommy Haas das Finale verloren: im Tie-Break des vierten Satzes. Doch er gilt als das größte Talent im derzeitigen Welttennis, ist derzeit elfter der Weltrangliste und jünger als alle Konkurrenten. Und er hat ein gutes Auge.

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