Am Anfang schaut Herr Zwilling, 70 Jahre alt, mit einem traurigen, ernsten Gesicht in die Kamera und liest einen Artikel aus der Stimme, der Zeitung der Bukowiner Juden, vor. Eine wahre Geschichte von einem Czernowitzer Juden, den der erste Weltkrieg bis nach Wien vertrieb, der zweite bis nach Ecuador. Ein Ostjude, den es nach Westen verschlagen hatte. Noch zwei solche Kriege, sagt er sich in Ecuador, und ich bin wieder zu Hause. Ein schöne Geschichte. Eine Geschichte, wie man dem Schrecken mit leisem Spott begegnet, so wie es die Helden dieses Filmes tun. Frau Zuckermann ist 90 Jahre alt. Sie zitiert Francois Villon und Heinrich Heine, Rilke ist ihr lieber als Celan, der berühmteste Sohn der Stadt. Es gibt keine Frau, die so viele Tote gesehen hat wie ich, sagt sie. Beide haben
en das rumänisch-faschistische Czernowitz überlebt, dann die Wehrmacht, dann die Stalinschen Deportationen. Zufällig überlebt, was sonst. Jeden Abend zwischen sechs und sieben, sagt Frau Zuckermann, kommt »mein Ritter von der traurigen Gestalt« und tischt schlechte Neuigkeiten auf. Jeden Abend seit sechs Jahren widerspricht Frau Zuckermann dem skeptischen Herrn Zwilling mit freundlicher Ironie. Da sitzen sie und schweigen. Und reden. Was wird kommen, fragt der Regisseur Volker Koepp einmal vage. »Nochmal einen Hitler oder Stalin wird es nicht geben«, sagt Frau Zuckermann. »Es kommt wahrscheinlich ein schwerer Winter«, sagt Herr Zwilling. Das ist er seiner Rolle als Pessimist schuldig. Der Pessimist und die Optimistin - das ist das Herzstück, das Kraftzentrum des Films. Manchmal wirken ihre Auftritte wie Theaterszenen, erfunden von Thomas Bernhard vielleicht. Herr Zwilling erzählt oft, welche Häuser seine Verwandten und Vorfahren in Czernowitz gebaut haben. Vielleicht lebt er noch immer im KuK-Österreich. Vielleicht ist ihm die Vergangenheit näher als die ukrainische Plattenbauten-Gegenwart, in der die Lehrer und Rentner monatelang kein Geld bekommen und jeder, der kann, weggeht. Czernowitz ist ein vergangenheitsverhangener Ort. Dreißig Juden, die hier geboren wurden, gibt es noch, drei oder vier sprechen deutsch. Im jüdischen Haus sieht man die Davidsterne in der Verzierung des Treppengeländers, die zu Sowjetzeiten herausgebrochen wurden. Damals schien die Vergangenheit eine mächtige Bedrohung gewesen zu sein, die ausgelöscht werden mußte. Heute ist sie eine Erinnerung an Unwiderbringliches. In den dreißiger Jahren war die Stadt zu Jom Kippur leergefegt. Alle, auch die Nicht-Juden, schlossen ihre Geschäfte, Und die Juden beteten zu einem Gott, der sie später so betrogen hat, sagt Frau Zuckermann. Zweimal sieht man den jüdischen Friedhof in Czernowitz. Eine scheinbar endlose Reihe von Gräbern. Thomas Plenerts Kamera zeigt diesen Ort ein wenig so wie jene Szene in Gone with the wind, in der Scarlett die Verwundeten sucht und die Kamera schließlich von oben den Blick auf einen scheinbar endlosen Platz freigibt, übersät mit Toten und Verwundeten. In diesem Blick auf den Friedhof sieht man beides: die Zerstörung der Juden und wie präsent ihre Kultur hier war. So wie Volker Koepp die Menschen zum offenen Reden zu bringen versteht, so bringt Plenert die Bilder zum Sprechen. Es gibt nichts Didaktisches in diesem Film. Daher rührt seine Schönheit. Koepps Kunst erweist sich auch darin, Folk loristisches zu vermeiden. Das Portrait des untergegangenen, melancholisch-weltoffenen wie heimatverbundenen ostjüdischen Bildungsbürgertum, dessen letzte Repräsentanten Herr Zwilling und Frau Zuckermann vielleicht sind, siedelt nah am Nostalgischen. Man sieht etwas, das es nicht mehr gibt, auch hierzulande nicht. Koepp freilich weiß dieses Bild vor sentimentalen Aufladungen und Vereinnahmungen zu schützen, indem er den Blick ins Heute weitet. So sieht man eine energische Lehrerin der jüdischen Schule, die stolz ihre Schüler präsentiert. Die Schüler kennen die jüdische Traditionen besser als ihre Eltern. Eine etwas paradoxe Situation. Später werden viele nach Israel gehen. Man sieht Frau Zuckermann, die noch immer den Kindern jener Czernowitzer, die es sich leisten können, Deutsch und Englisch beibringt. Denn wer auch hierbleibt, wer nicht nach Amerika auswandern kann, weiß, daß es eine lohnende Investion ist, deutsch zu können. Und in einer hübschen Miniatur sieht man eine ukrainische Schülerin, die in der Schule die Qualitäten der ukrainischen Weltliteratur zu preisen lernt. Nun ja, sagt Frau Zuckermann, russische Literatur, Tolstoi und Puschkin, aber ukrainische? Gleichwohl, der neue Staat braucht eine Nationalliteratur. So erfindet man Traditionen. »Herr Zwilling und Frau Zuckermann« ist ein offener Reigen aus dramatischen und komödiantischen Bildern. In der Synagoge werden wir Zeuge einer kleinen Slapstick-Szene. Eine Leiter wird aufgebaut, doch sie steht am falschen Ort. Noch eine Leiter taucht auf. Man bemüht sich, rückt hin und schiebt her. Der Rabbi verfolgt das Treiben mit besorgten Blicken und linkischen Vorschlägen. Am Ende leuchtet eine neue Neonröhre, die das jeweilige Jahr jüdischer Zeitrechnung anzeigt. »Herr Zwilling und Frau Zuckermann« lebt schließlich, wie viele Koepp-Filme, von der spielerische Reflexion des Gemachten, von dem beiläufigen Verweis auf das Hergestellte des Dokumentarischen. In Waschkautz, einem Dorf in der Bukowina, treffen wir eine greise Bäuerin. Rosa Liebermann ist dort die letzte Jüdin.. Sie schaut in die Kamera und sagt: Soll ich lachen? Ja, nuschelt Volker Koepp. Und Rosa Liebermann lacht.
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