Textnachricht aus der Wüste: „Der Krieg hat begonnen. Zwischen uns und den Marokkanern. Seit dem Morgen. Meine beiden Brüder und mein Vater sind an der Front. Alle jungen Leute hier in den Camps haben sich versammelt und wollen kämpfen. Es ist wahr. Kein Scherz.“ Im nebelgrau winterlichen Wien lese ich das auf meinem Smartphone und weiß nicht, was ich denken soll. Was ich weiß: wer die Nachricht verschickt hat, in der es weiter heißt: „Die Leute sind auf seltsame Weise glücklich, aber ich habe keine Ahnung, was das für unser Leben heißt. Weiter warten auf eine Zukunft, während die internationale Gemeinschaft mit unserem Schicksal spielt?“ Was ist da los? Was ist passiert mit Najla, der Absenderin, seit ich sie vor zwei Jahren in ihrem Flüchtlingslager in Algerien besuchte? So hatte ich sie nicht kennengelernt. Wurde aus der Friedensmahnerin eine Kriegerin? Und was, wenn sie jetzt bei den Kämpfen einen ihrer Brüder verliert?
Es gab nach unserem Treffen einen Abschied in der Dunkelheit, ich stand im schwachen Licht der Scheinwerfer, den Koffer schon in der Hand. Nur wenige Schritte waren es durch den Wüstensand, rein in den klappernden Bus und wieder raus aus dem Camp. Ich war mit einem Kameramann unterwegs, um die Aktivistin Najla Mohamed Lamin zu besuchen. Um zu spüren, was es heißt, als Flüchtling in der Wüste zu leben. Um zu verstehen, warum die Menschen bleiben, weshalb sie ihr Glück nicht andernorts suchen. Ich wollte wissen, wie man es übersteht, ohne Perspektive zu warten und trotzdem nicht die Hoffnung auf die Heimat, die Westsahara, zu verlieren.
Ich spreche weder ein Wort Arabisch noch Spanisch, also tauschten wir uns auf Englisch aus. Zuletzt hatte ich von Najla längere Zeit nichts mehr gehört, bis sie nun schrieb: „Mir geht es gut, es hat den Anschein, als würde das Camp nur noch aus Frauen bestehen. Marokko wollte es so. Die Welt hat mehr als 30 Jahre lang nichts getan, diesen Konflikt friedlich zu lösen.“
Was passiert gerade in der Westsahara? Offenbar wird wieder geschossen in der Pufferzone. Auslöser war eine Straßenblockade unweit der Grenze zu Mauretanien. Najlas Landsleute unterbrachen Ende November Marokkos wichtigste Verbindung ins Nachbarland und in das restliche Afrika, weil sie genug hatten von der Untätigkeit der Vereinten Nationen. Zwar hatten die ihre Westsahara-Mission MINURSO 2020 erneut verlängert, zugleich aber eine Volksabstimmung über die Zukunft der Region, an die sich die Sahrawis seit Jahrzehnten klammern, ganz aus ihren Dokumenten gestrichen. Als ich Najlas Nachrichten lese, haben marokkanische Truppen die Blockade längst gewaltsam beseitigt. Und da sich die Unabhängigkeitsbewegung Polisario nicht mehr an die fast 30 Jahre geltende Waffenruhe gebunden fühlt, wird wieder geschossen.
Noch relativ genau sind auch meine Erinnerungen an den Abend im Februar 2019, als Najla, wie immer in farbenfrohe Tücher gewickelt, vor ihrem kleinen Haus Gemüse zubereitete. Die Sonne war hinter steinbeschwerten Wellblechdächern verschwunden. In Smara, dem größten von fünf Flüchtlingslagern der Sahrawis in der algerischen Wüste, leuchteten keine Laternen, nur die Sterne am Himmel. Der Wind ließ nach, der Sand, auf dem Najla Teppiche ausgelegt hatte, war abgekühlt. Heiß war nur mehr die Teekanne, die in glühenden Kohlen stand. „Bei uns wird immer spät gegessen. Das geht auf unsere nomadischen Vorfahren zurück, die stets gewartet haben, ob noch jemand kommt“, erklärte Najla. Einer der Brüder hielt mir sein Smartphone vors Gesicht. Ein Video zeigte Berge, Küsten und Dünen. „Wir haben ein so schönes Land. Es ist traurig, dass ich noch niemals dort war“, meinte Najla. Dieses Land zwischen Wüste und Atlantik ist bis heute völkerrechtswidrig von Marokko besetzt. Oft wird von der Westsahara als der „letzten Kolonie Afrikas“ gesprochen. Ein durch Tausende Soldaten besetzter, 2.700 Kilometer langer Erdwall trennt die besetzten, rohstoffreichen Gebiete von einem schmalen Wüstenstreifen. Minenfelder unterstützen das. „Mauer der Schande“ sagen die Sahrawis, von denen in meiner Wiener Journalisten-Blase kaum jemand etwas weiß.
Nach dem Abzug Spaniens Mitte der 1970er teilten Marokko und Mauretanien die Westsahara unter sich auf. Die sozialistische Befreiungsfront Polisario rief daraufhin die Demokratische Arabische Republik Sahara aus und leistete Widerstand. So wurden Dörfer zu Kampfzonen, starben Zivilisten, flohen Zehntausende. Wie oft hatte Najla gehört, dass ihre Großväter, der Vater und dessen Brüder unter denen waren, die seinerzeit gegen die Marokkaner in Gefechte zogen, die über ein Jahrzehnt dauerten. Zwei von Najlas Verwandten überlebten die Kämpfe nicht. Im Jahr 1975 schließlich flohen die Großeltern und ihre Mutter nach Algerien. Zwei Monate seien sie durch die Wüste gewandert. Ihre geliebte Großmutter hätte jeden Tag dafür gebetet, wieder in die Heimat zurückkehren zu können, erzählte Najla.
Video aus der Bibliothek
Sie selbst war erst zwei, als die Polisario und Marokko 1991 mit UN-Vermittlung das Waffenstillstandsabkommen aushandelten. Doch sei alles nur ein Trick gewesen, die Dokumente, die ihre Eltern damals von den UN erhielten, um am Referendum über die Zukunft der Westsahara teilzunehmen, berichtete Najla, hätten sie heute noch. Die Erinnerung an einen Betrug, abgestimmt wurde nie.
Ihr Lager Smara liegt in der Steinwüste Hamada, im „Garten des Teufels“, 40 Kilometer entfernt von der algerischen Provinzstadt Tindouf. Ein Backofen im Sommer, ein Kühlschrank im Winter. Lastwagen von Hilfsorganisationen versorgen mit Lebensmitteln und Trinkwasser. Das Brot knirscht sandig zwischen den Zähnen, magere Ziegen knabbern in Schrottgattern an Plastikfetzen, die Kindersterblichkeit ist hoch. Najla: „Alle dachten anfangs, Lager wie diese brauche man höchstens für Monate, es wurden Jahrzehnte.“
Als Kind, erzählte mir Najla, habe sie gedacht, es gebe kein Leben außerhalb des Lagers. Bis sie mit neun Jahren wie andere Flüchtlingskinder über den Sommer nach Spanien fahren konnte und schockiert war, als sie dort einen Swimmingpool sah. „Im Lager hatten wir nie genug Wasser, hier schwammen die Leute im Wasser herum.“ Mehr als 50.000 Menschen lebten in Najlas Lager, als ich sie besuchte, jeder musste mit zehn Liter Wasser pro Tag auskommen.
Nach Najlas Nachricht über die Rückkehr zum Krieg versuche ich ein Videotelefonat mit ihr, obwohl ich weiß, dass es Stromausfälle gibt und das Mobilfunknetz löchrig ist. Ich will sie fragen, was sie von den jüngsten Ereignissen hält. Und ob sie etwas von ihren Brüdern gehört hat. Nachdem ich Najla erreicht habe, bricht die Verbindung zusammen. Ich starre auf das Display und warte. Schließlich die Nachricht: „Mein Telefon lädt gerade. Akku war leer.“
In Najlas Facebook-Feed sehe ich: Sie hat ein 30-minütiges Video aufgenommen, sitzt in der von ihr eingerichteten Bibliothek, blickt in die Kamera und wirkt müde. Kinder plappern im Hintergrund. „Die Camps sind voll von jungen Menschen, die alles andere wollen, als in einen Krieg zu ziehen. Wir haben es versucht und versucht, mehr als 30 Jahre lang“, sagt Najla mit fester Stimme. „Wir wissen, Krieg ist keine Lösung. Aber soll man ein ganzes Leben in dieser Realität leben und 30 Jahre warten, bis die internationale Gemeinschaft auf dich schaut?“ Da wird sie unterbrochen und lächelt zum ersten Mal. Eine kleine Hand reicht ihr eine Zeichnung, Najla hält sie in die Kamera und sagt: „Schaut euch das an. Die sahrawische Flagge und das Victory-Zeichen. Und ich lese hier: ‚Lasst unsere Väter gesund heimkehren.‘ “ Das Kind verschwindet mit der Zeichnung, genauso das Lächeln auf Najlas Gesicht. „Ich habe diese Bibliothek eingerichtet als Ausdruck des Überlebenswillens.“ Hier werde sie den Kindern weiterhin vorlesen, mit ihnen malen und sie zu einem Leben in Frieden inspirieren. Aber, sagt Najla, sie unterstütze auch alle, die jetzt kämpfen wollten. „Die Marokkaner sagen immer, die Sahrawis seien nur eine kleine Schar von Terroristen. Sie haben keine Vorstellung, wer wir sind, und keine Ahnung von diesem Revolutionsgeist, den wir von klein auf gelehrt bekamen.“
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