Klamme Finger, schwarzer Matsch

Bosnien An der Grenze zur EU frieren tausende Migranten im Schnee. Die Lehrerin Amina Jusić hilft ihnen, doch das wird immer schwieriger
Ausgabe 03/2021

Das Handy blinkt und blinkt, Nachricht um Nachricht leuchtet auf dem Display. Die Namen Muhammad, Khan oder Abdellah erscheinen dort. Doch Amina Jusić hat ihr Smartphone gerade nicht zur Hand. Sie wühlt, den Arm bis über den Ellenbogen versenkt, in einem Umzugskarton voll mit Pullovern. Es riecht nach alten Sachen im Lagerraum mit den verklebten Fenstern. Bis unter die Decke türmen sich hunderte Kartons, die von Trucks aus Österreich gebracht wurden. Die meisten sind beschriftet: „Herrenschuhe“, „Sweater“, „Strumpfhosen“. Amina Jusić weiß, wo sie die festen Schuhe findet, wo die Schlafsäcke und die Decken liegen. „Die Decken sind in der Kälte wichtig, auch zum Umhängen. Vor allem für die Bangladeschi, die wickeln sich gern damit ein“, sagt die 34-Jährige, die ihre langen Haare offen trägt und deren Bewegungen auch im Karton-Chaos geordnet wirken. „Ich bin nur froh, dass jetzt wieder genug da ist. Nur leider wird es nicht lange reichen.“

Jusić schielt auf ihr Handy und zupft einen rostroten Strickpullover aus einer Kiste. „Ob der auch für Männer passt?”, lacht sie, kramt weiter und zerrt einen dunklen Sweater aus dem Haufen. „Manche hätten am liebsten schwarze Pullover, denn die sind in der Nacht am besten für das ‚Game‘.“ Jusić stopft den Pullover in einen blauen Müllsack. Sie klebt den Sack zu, schaut auf ihre handgeschriebene Liste. „7 people, clothes, 4 M/3 L”, steht dort. Zuletzt schreibt sie einen Namen auf das Klebeband: Muhammad. Das war das letzte Gepäck für die Lieferung. Jusić wirft sechs prall gefüllte Säcke in den Kofferraum und auf die Rückbank ihres Autos. Sie will zu den Menschen draußen im Wald und alles verteilen.

Von der Burg sieht man die EU

Jusićs Auto parkt in einer Seitenstraße der Kleinstadt Velika Kladuša. Die Lehrerin ist eine von 44.000 Einwohnern der Gemeinde, die dort in der Hügellandschaft am nordöstlichsten Zipfel des Kantons Una-Sana, am Ende Bosniens und am Anfang der Europäischen Union, zu Hause sind. Von der Burg im Zentrum der Stadt sieht man die Europaflagge vor dem Grenzübergang Maljevac wehen – drüben in Kroatien. Genau dorthin wollen Tausende von Menschen, die vor Krieg und Armut geflohen sind oder für ein besseres Leben ihre Heimat verlassen haben. Die UN-Flüchtlingsagentur UNHCR hat seit 2018 die Ankunft von fast 68.000 Menschen in Bosnien-Herzegowina verzeichnet. Die meisten bleiben hier stecken, weil die kroatische Grenzpolizei sie oft mit Gewalt über die Grenze zurückdrängt. Wer nicht weiterkommt, muss meist ohne Versorgung in Abbruchhäusern oder im Wald schlafen. Und bricht irgendwann erneut zum „Game“ auf, um doch in die EU zu gelangen.

Jusić fährt durch ein Wohngebiet, vorbei an Rohbauten und Autos mit österreichischen und deutschen Kennzeichen. Dann hält sie bei einem Bach, der nach den Schneefällen im Januar über die Ufer tritt. Müll hängt in den Sträuchern, Kleidung zum Trocknen über dem Brückengeländer. „In diesem Bach waschen die Männer ihre Wäsche. Da oben sind die Zelte“, sagt Jusić und deutet auf Hügel hinter der Brücke, wo provisorische Unterkünfte liegen, seit das Lager Lipa kurz vor Weihnachten geschlossen wurde und ein Teil davon abbrannte. Die bosnischen Behörden hatten ihre Zusage an die Organisation für Migration (IOM) nicht eingehalten, das Camp winterfest zu machen. In Gummistiefeln stapft Amina durch schwarzen Matsch die Böschung hinauf. Dann steht sie zwischen dünnen Bäumen, Plastikplanen und Müllhaufen. Ein Mann streckt seinen Kopf aus einem Zelt. Jusić fragt, wie es geht. „Good, but cold“, sagt er und zieht sich in seinen Verschlag zurück. Jusić hockt sich hin, um unter die Äste und Plastikplanen zu schauen. Darunter liegen drei junge Männer in ihre Schlafsäcke gehüllt. „Kein Game? Bleibt ihr den Winter über hier?” Die Drei nicken, es sei einfach zu kalt und der Versuch, die Grenze zu überqueren, jetzt noch gefährlicher.

Obwohl es ihr Recht ist, in der EU einen Asylantrag zu stellen, bleibt den Geflüchteten meist nur der gefährliche Weg über die grüne Grenze. Jeden Tag, wenn es dunkel wird, beginnt für viele der Marsch durch die Berge nach Kroatien. Die meisten werden jenseits der Grenze aufgegriffen und wieder nach Bosnien zurückgebracht. Niemand überprüft, ob sie asyl- oder aufenthaltsberechtigt wären. Mancher wird ohne Schuhe zurückgetrieben. Das „Game“ endet da, wo es begonnen hat: in Jusićs Nachbarschaft.

Mit Messern attackiert

Nebenan knacken Feuer. Ein Mann in Kapuzenpullover hockt vor einem rostigen Ofen. Zwei andere, die Füße in schlammigen Sandalen, strecken klamme Finger über die Flammen. Die Männer aus Bangladesch sind froh, die Helferin zu sehen. „Vor dem Winter waren gut 400 Leute hier im Wald“, sagt Jusić, „jetzt noch ein paar Dutzend.“ Manchmal kennt sie auch deren Geschichten. „Ich habe einen algerischen Freund, der jetzt in London lebt. Wir haben so viel durchgemacht, auf seinem Weg von Kladuša nach London. So viele Stunden telefoniert. Für mich ist er jetzt wie ein Familienmitglied.” Es gibt Erinnerungen, die schmerzen: Eines Tages bekam Jusić Fotos geschickt, die einen toten Flüchtling zeigten. Er sei gestorben, weil er durch ein Fenster ins Camp klettern wollte, um dort zu duschen. Dabei sei er ausgerutscht, habe sich das Genick gebrochen.

An diesem Nachmittag richten sich wieder Neuankömmlinge im Wald ein. „Wir sind aus Lipa gekommen”, sagt einer nach dem 80 Kilometer langen Marsch von dort durch Schnee nach Velika Kladuša, darauf angewiesen, dass Hilfsorganisationen auf offenem Feld Schlafsäcke und Lebensmittel an sie verteilen. „Essen bringen, am besten abends“, sagt einer der Männer im Wald zu Jusić, als sie fragt, was gebraucht wird. Die Helfer rekrutiert vorzugsweise die Hilfsorganisation „SOS Balkanroute“. Die Aktivisten aus Österreich und Deutschland verteilen Essen, Kleidung und Schuhe an die Obdachlosen meist im Schutz der Dunkelheit, im Schein ihrer Stirnlampen. Zumeist können sie auf Reis, Linsen, Zwiebeln und Speiseöl zurückgreifen. Die Flüchtlinge außerhalb des offiziellen Flüchtlingslagers Miral sind auch deshalb darauf angewiesen, weil ihnen die Supermärkte verschlossen bleiben. Es gäbe Leute, die genug hätten von den Hilfsbedürftigen, weil bei ihnen eingebrochen wurde, berichtet Amina Jusić. Die seien aber in der Minderheit. Dennoch: Über Flüchtlinge zu sprechen, sei schwierig in Kladuša. „Du weißt nie, was jemand darüber denkt. Und ob sie es gut finden, wenn ich helfe. Meinen Schülern erzähle ich, was ich von den Menschen lerne, und nicht, wie ich ihnen beistehe.“

Auf dem Weg zur vereinbarten Übergabe der Kleiderspenden fährt Jusić direkt am ebenfalls überfüllten Camp Miral vorbei. Unweit des Lagers parkt sie den Wagen vor einem Einfamilienhaus. „Salam aleikum!”, grüßt ein Mann mit Zahnlücke und in abgetretenen Laufschuhen. Jusić sucht den passenden Müllsack und hört die Kinder im Haus. Der Mann sei mit seinen zwei Töchtern aus dem Irak geflohen. Seit fast zwei Jahren sitze er fest, seine Frau sei mit zwei anderen Kindern bereits in Deutschland. Schon mehr als 40 Mal brach er mit den Töchtern zum „Game“ auf, „aber gerade wegen der Kinder hat er keine Chance“.

Die irakische Familie kennt Amina, seit alles hier begann, seit März 2018. Danach war sie fast jeden Tag nach dem Unterricht unterwegs, auch weil ihre Telefonnummer und die anderer freiwilliger Helfer unter den Geflüchteten weitergegeben wurden. Nur wenn sie nicht in Kladuša ist, habe sie eine Pause vom Helfen. „Sogar meine engsten Freunde meinen, ich sei verrückt“, erzählt Jusić.

Es gelte quasi als illegal, den so furchtbar Gestrandeten Kleidung oder Essen zu bringen. Tatsächlich untersagt der Kanton Una-Sana, unversorgte Menschen weiter zu unterstützen. Nur die Internationale Organisation für Migration und das Internationale Rote Kreuz dürfen helfen, solange sie in offiziellen Camps arbeiten. Das Border Violence Monitoring Network berichtet von Fällen, wonach die Vergabe von Spenden für die Geflüchteten durch die Polizei verhindert wurde. Man habe die freiwilligen Helfer auf Polizeistationen gebracht und ihre Ausrüstung beschlagnahmt. Jusić erwähnt, dass sie auch schon mit dem vollbepackten Auto in Verkehrskontrollen geraten sei, die Polizei ihr aber keine Probleme gemacht habe. „Noch nie hat mich jemand angesprochen, obwohl jeder hier weiß, was ich tue.“ Bedrohungen seien unterblieben, weil sie eben nicht auf Facebook poste, was sie tue. Andere dagegen würden auf der Straße beschimpft und fotografiert, wenn sie etwas für die Lebensmittelhilfe einkauften.

Gab es an der Grenze anfangs breite Solidarität für die Geflüchteten, bröckelt diese zusehends: Immer wieder fordern Bosnier, die Lager zu schließen. Im Sommer wurden Busse gestoppt, die Geflüchtete in das Camp Miral bringen sollten. Im September wurden vier Männer aus Algerien und Marokko von einer Bürgerwehr mit Messern attackiert oder Häuser niedergebrannt, in denen andere Schutz gesucht hatten.

Die Push-Backs verstoßen klar gegen EU-Recht. Der Aufschrei in Brüssel oder einzelnen EU-Staaten bleibt dennoch aus, genauso wie die Unterstützung für das Land, dessen Bürger ohnehin unter der Pandemie, Arbeitslosigkeit und sozialer Unsicherheit leiden. Die bosnische Zentralregierung appelliert erfolglos an die Regionen, die Stadtverwaltungen fühlen sich im Stich gelassen, Bürgermeister wehren sich gegen neue Lager. „Unser Land ist mit der Situation überfordert”, sagt Miljenko Aničić, Caritas-Direktor von Banja Luka. Was es jetzt brauche, sei Soforthilfe für die Menschen, damit sie den Winter überstehen.

„Oft bin ich müde und wünschte mir mehr Zeit für mich“, sagt Jusić. „Aber wenn ich daran denke, dass durch meine Arbeit jemand weniger hungrig ist oder weniger friert, dann geht es wieder.“ Sie habe gelernt, mit den kleinen Dingen zufrieden und glücklich zu sein. „Ich würde das gegen nichts eintauschen wollen.“ Bevor es dunkel wird, will sie noch ein paar Säcke packen. Wie es weitergehe, hier an der Grenze Europas, das wisse sie nicht. Pläne mache sie keine, sagt Jusić. Sie hoffe nur, dass weiter Kartons kommen. „Und dass der Winter nicht zu kalt wird.“

Stefan Schauhuber ist freier Journalist. Sozialreportagen sind sein Schwerpunkt

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