Dies Land ist mein Land

THEATER UNTER OKKUPATION Das 3. Internationale Theater festival des Palästinensischen Nationaltheaters in Jerusalem als Versuch, eine eigene Kultur weiterzuentwickeln und lebendig zu halten

Zwar begibt sich kaum einmal ein Israeli in den Ostteil Jerusalems, aber noch immer proklamiert ihn fast jede politische Rede als heiligen Besitz. Der militärischen Okkupation folgte nicht nur die soziale und ökonomische Vernachlässigung dieser Stadthälfte, ihre Einkreisung mit israelischen Vorstadtsiedlungen und die ›stille Vertreibung‹ ihrer arabischen Bewohner, sondern auch die Unterdrückung jeder in ihr lebendigen palästinensischen Kultur. »Es gibt eine Art Kulturraub von Seiten der Israelis«, so Sameh Hijazi, künstlerischer Leiter des Palästinensischen Nationaltheaters, »der darauf zielt, die palästinensische Kultur und Kunst aus Jerusalem zu verdrängen. Analog zu ihrer Sage vom Land ohne Bewohner, versucht Israel, Jerusalem als eine Stadt ohne palästinensische Kultur zu behaupten.«

Die Existenz eines Palästinensischen Nationaltheaters in Jerusalem ist deshalb bereits ein politisches Faktum. Das wird den hier arbeitenden Künstlern nicht zuletzt durch bürokratische Behinderungen von israelischer Seite immer wieder bewusst gemacht. Das internationale Festival, das seit drei Jahren vom Nationaltheater ausgerichtet wird, sieht sich jedes Jahr aufs Neue durch Einreiseverbote für Gastspiele aus arabischen Staaten und aus palästinensischen Städten wie z.B. Gaza gefährdet und eingeschränkt. Mit umso größerem Stolz proklamierte Yahaia Yakhlef, Vizekulturminister der palästinensischen Autonomiebehörde, den diesjährigen Erfolg des Theaterfestivals als Manifestation des palästinensischen Anspruchs auf Ost-Jerusalem.

Kunst und Alltag werden in dieser Stadt völlig vom politischen Konflikt bestimmt. »Ich erinnere mich an keinen Tag in meinem Leben«, sagt Hayyan Yacoub, Theaterregisseur und Dokumentarfilmer, »in dem ich nicht mit dem Konflikt zwischen Israelis und Palästinensern konfrontiert gewesen bin, sei es auf der Straße oder zu Hause.«

Auch dem europäischen Besucher ist er ständig vor Augen: An jeder dritten Straßenecke stehen israelische Soldaten mit Maschinengewehren. Ohne Sondergenehmigung kommt seit der Abriegelung der Stadt in Folge des Oslo-Abkommens kein Bewohner der Westbank mehr nach Jerusalem. Auch wer eine solche besitzt oder in Ost-Jerusalem wohnt, muss sich auf stundenlanges Warten oder plötzliche Totalschließungen der Grenze gefasst machen. Für das Palästinensische Nationaltheater, dessen Zuschauer zuvor zu großen Teilen aus Ramallah und Bethlehem nach Jerusalem kamen, hat diese politische Maßnahme ganz existentielle Folgen.

Dabei verlangt die gesellschaftliche Situation in Jerusalem und ganz Palästina wie kaum eine andere nach dem Theater als einem Ort, in dem die gesellschaftlichen Gegebenheiten, die das private Leben durchdringen, zur Anschauung gebracht, verhandelt, verurteilt werden können. Nicht um politisches Handeln zu sublimieren, sondern um dazu herauszufordern. »Spätestens seit 1967«, berichtet Sameh Hijazi, »war das palästinensische Theater immer ein politisches Theater; in dem ganz konkreten Sinn, dass es die politische Situation, in der wir leben, zum Thema seiner Inszenierungen macht, dass es also von der Okkupation handelt und vom Befreiungskampf.« Anders als in Europa, wo das Theater daran stirbt, dass es zu einer selbstverständlichen Einrichtung des kulturellen Überbaus geworden ist, geht es für viele Künstler in Palästina noch darum, eine unannehmbare Realität durch kritische und visionäre Auseinandersetzung zu begleiten.

Und Realität ist hier in erster Linie die israelische Besatzung. »Gäbe es diesen Konflikt nicht«, so Hayyan Yacoub, »würde mich das Theater wahrscheinlich gar nicht interessieren.«

Dennoch existiert ein Theater, das in der Mitte der Gesellschaft entsteht und mit ihr unauflöslich verknüpft ist, auch in Palästina nur als Ausnahme von der Regel. Sameh Hijazi: »In den arabischen Ländern gibt es keine der europäischen vergleichbare Theater tradition, und vor allem hier in Palästina, bedingt durch seine politische Geschichte, gab es nur sehr geringe Chancen einer ästhetischen Entwicklung des Theaters. So verbinden die meisten Menschen mit Theater nur die ägyptischen Lustspiele, die sie durch das Fernsehen und durch Videokassetten kennen. Anderes Theater hat es dagegen sehr schwer, ein größeres Publikum zu erreichen und etwas bei ihm auszulösen.«

Dem möchte Sameh Hijazi mit dem Theaterfestival etwas entgegen setzen, u.a. mit Gastspielen aus dem Ausland, die einer anderen Ästhetik folgen als eben die ägyptischen Fernsehkomödien.

Nicht immer geht das gut, denn selbst die Präsentation rein selbstreferenzieller Kunst kann in einer fremden politischen und kulturellen Landschaft leicht einen imperialistischen Habitus annehmen. Das Scarborough College zeigte Becketts Ohio Impromptu und Not I und setzte davor eine halbstündige Einführung in die Ästhetik des Autors an, damit das der europäischen Theatertradition vermeintlich unkundige Fremdpublikum die Folie seminiert bekommt, auf der diese Stücke wohl einzig zu verstehen seien. Doch die Inszenierungen wurden so gänzlich ohne eigenes Leben dargebracht, dass die einzig spürbare Präsenz die Ignoranz der Macher blieb, die glaubten, Kunstexport als Zivilisationshilfe betreiben zu müssen.

Das Gastspiel der deutschen Kranich-Produktion wurde dagegen aufgrund seines Inhalts ausgewählt. Ihr Stück Gift von Christine Sohn erzählt von einer im Untergrund agierenden Band, die gegen die erkaltete feindliche Außenwelt mit Liedern von Liebe und Widerstand opponiert. Don, Sängerpoet und Leader der Gruppe wird von der Staatspolizei entführt. Die Zurückgebliebenen erwägen zu seiner Rettung eine Revolution. Gezeichnet von psychischer und physischer Folter kehrt Don am Ende wieder - verwandelt in das Abziehbild eines von den Massenmedien inaugurierten Welt- und Menschenbildes.

Die Anerkennung, die diese Aufführung beim palästinensischen Publikum fand, galt vor allem den Schauspielern. Hayyan Yacoub geht davon aus, dass es sich auch von der dargestellten Situation in der eigenen Realität besonders berührt fühlte: »Für mich geht es in diesem Stück um ein Neu-Bedenken der Revolution in einer nachrevolutionären Zeit. Die Aufführung formuliert genau die Frage, die in unserer Gesellschaft jeder Einzelne sich wieder zu stellen hätte und fordert, gerade weil sie im Stück nicht beantwortet wird, zu eigenem neuen Nachdenken und Handeln heraus.«

In Deutschland lag ein Hauptaugenmerk der Rezeption auf dem Ergebnis der Gehirnwäsche, die ihr Opfer nur mehr Hollywood-Filmfetzen wiedergeben lässt. In Palästina lässt eine Wirklichkeit, in der die Anwendung physischer Gewalt zu den Verhörmethoden israelischer wie auch palästinensischer Sicherheitskräfte gehört, ein bloß metaphorisches Verstehen - die alltägliche mediale Folter als postmoderne Form der Gehirnwäsche -, nicht zu. Ähnliches gilt in einem Land, das mit Bezug auf göttliche Autorität als Eigentum beansprucht wird, für Sätze wie: »Alles, was du von hier aus sehen kannst, gehört mir. Diese Hügel, diese Fichten, dieses Wasser. ... Es gibt nichts Schöneres auf Gottes weiter Erde.« Oder auch: »In diesem Land ist kein Platz für uns beide. Entweder du oder ich.« Worte wie diese verlieren hier ihre vermeintliche Lächerlichkeit. Sie benennen die Erfahrung der Juden in der Diaspora, und sie verweisen zugleich auf die Wirklichkeit der in zwei Kriegen und deren politischer Fortsetzung bis heute aus ihren Häusern und von ihrem Land vertriebenen Palästinenser.

One for the road (nach Harold Pinter), die Inszenierung des gastgebenden Palästinensischen Nationaltheaters, zeigt, wovon in Gift nur indirekt die Rede ist: eine Verhörsituation mit keinem anderen Ziel als die Zerstörung der inquirierten Subjekte. Ein Mann, eine Frau und ein Kind werden von einem mit absoluter Macht ausgestatteten Vernehmer so lange sprachlich und, was auch in dieser Inszenierung nur angedeutet wird, körperlich gefoltert, bis sie sich selbst verlieren. Die Aufführung endet damit, dass der seiner Sprache beraubte Vater vom Inquisitator kumpelhaft umarmt wird, einen Drink serviert bekommt und dann nach Hause geschickt wird. Seine Frau, wird ihm gesagt, käme in etwa einer Woche nach und sein Sohn befände sich ›in Gottes Hand‹. Diese Geschichte ist versetzt mit Videoeinspielungen, in der spotartig Szenen aus der israelischen und palästinensischen Geschichte zu sehen sind, darunter auch die bekannten, nach Friedensschlüssen aufgenommenen Bilder wie der Händedruck zwischen Rabin und Arafat. Wird hier eine Analogie gezogen zwischen diesen Bildern und dem zynischen Friedensschluss am Ende von Pinters Stück? »Das ist unser Friedensprozess«, bestätigt Regisseur Sameh Hijazi. »Wir haben gekämpft und gekämpft, doch zuletzt mussten wir zu einem Dialog kommen und Kompromisse machen, weil uns kein anderes Land helfen konnte oder wollte. Wir sind zum Nachgeben gezwungen, so dass wir zuletzt nur einen vielfach beschnittenen Frieden bekommen haben.«

Die letzte Aufführung des Festivals findet an seinem vorletzten Abend statt, da auch das Abschlussgastspiel aus Amman der Visawillkür oder -strategie Israels kurzfristig zum Opfer fiel. Bab esh Shams (»Tür der Sonne«, nach einem Roman von Elias Khoury) des Al-Kasaba Theaters aus Ramallah zeigt ein Krankenhauszimmer, darin einen im Koma liegenden Patienten und seinen Bettnachbarn, der zugleich sein Pfleger ist und vorgibt, Arzt zu sein. Er erzählt dem Kranken von gemeinsamen Erlebnissen in der von Kampf, Vertreibung, Flucht und Exil geprägten palästinensischen Vergangenheit und will ihn damit wieder zurück ins Leben holen. »Er erzählt diese Erlebnisse aus seiner Perspektive und auf seine Art«, erläutert nach der Aufführung Abed Al-Jubeh, künstlerischer Leiter des Al-Kasaba Theaters. »Er macht sie wieder zu seiner Geschichte und zu der des Kranken, er gibt beiden das zurück, was ihnen durch die von der anderen Seite dominierten offiziellen Erzählung der Ereignisse genommen wurde.« Die ›wahre‹ Historie als Medizin für den kriegsmüden Kämpfer? Eine ideologische Infusion, die in Aufrechnung der längeren Dauer gegen die jüngere Vergangenheit der Gebietsherrschaft die Kriegsbereitschaft beider Parteien lebendig hält? »Nein, darum geht es nicht«, antwortet Al-Jubeh. »Aber es geht um die Anerkennung des eigenen Erlebens als eines, das tatsächlich stattgefunden hat.«

Nach dem Scheitern der Verhandlungen in Camp David und angesichts des ›palästinensischen Jahres 2000‹ sowie der sich abzeichnenden reaktionären innenpolitischen Entwicklungen in Israel, befürchten viele und hoffen einige auf den Ausbruch einer neuen Intifada.

Während des Festivals treffe ich Manfred Wüst, Leiter des Goetheinstituts in Ramallah. Dieses existiert seit zweieinhalb Jahren, da von Tel Aviv und auch von West-Jerusalem aus die palästinensische Bevölkerung nicht zu erreichen gewesen ist. »Kaum ein Israeli traut sich ins Westjordanland. Behauptet wird eine konkrete Bedrohung, die aber für Besucher gar nicht existiert. Tatsache ist, dass die meisten Israelis das Leben in dieser Region nicht interessiert. Sie wollen sie nur besitzen. Es besteht eine totale Unkenntnis voneinander. Die Folge sind Misstrauen, Angst und Feindseligkeit.« Ein Teufelskreis, der nicht auf diese Region beschränkt ist, denke ich und frage, ob dieser dann nicht durch die Kultur zu durchbrechen sei. »Solche Versuche hat es gegeben«, antwortet Wüst. Aber sie sind letztendlich gescheitert, weil palästinensische Künstler sich weigerten, an solchen Projekten mitzuwirken, solange ihr Standpunkt von der anderen Seite noch nicht einmal zur Kenntnis genommen wird.

Die Kunst kann zwar die Faktizität transzendieren, aber sich nicht ablösen von der gesellschaftlichen Realität, und die Kultur kann deren Defizite nicht einfach überspringen.

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