Der neue Bundesgesundheitsminister Jens Spahn hat es geschafft: Zumindest für ein paar Tage hat er das Siegertreppchen in der Disziplin der medialen Aufmerksamkeitsökonomie erklommen. Nicht mit bahnbrechenden Vorschlägen, wie etwa der grassierende Pflegenotstand zu bekämpfen sei. Sondern weil er sich in bewährter Manier darauf versteht, „die da unten“ gegen andere „da unten“ auszuspielen.
In der Debatte über den Aufnahmestopp bei der Essener Tafel hatte Spahn der Öffentlichkeit zugerufen, mit Hartz IV habe „jeder das, was er zum Leben braucht“. Das löste bei seinen Gegnerinnen und Gegnern erwartbare Reflexe der Ablehnung aus. Bekommen haben wir eine dieser typischen Hartz-IV-Debatten: Reicht es oder reicht es nicht? Angesichts von sechs Millionen Menschen, die auf Leistungen aus dem Grundsicherungssystem angewiesen sind, mit ihren völlig unterschiedlichen Lebenslagen und -geschichten, ein mehr als ambitioniertes Unterfangen. Aber Jens Spahn – oder die in seinem Hintergrund – agiert professionell und legt sogleich ein weiteres Scheit aufs Feuer: Die da unten hätten eigentlich sogar zu viel; denn, so der Hartz-IV-Experte, „eine Verkäuferin im Einzelhandel hat weniger, um ihre Familie zu versorgen, als jemand, der den Hartz-IV-Satz bekommt“. Die anvisierte Empörungsmechanik, dies sei doch nicht in Ordnung, wenn die Verkäuferin, die morgens aufsteht und zur Erwerbsarbeit geht, weniger habe als ein nichts tuender Hartz-IV-Bezieher, womöglich noch mit Migrationshintergrund, funktioniert stets aufs Neue. Ein Teil der Presse sekundiert mit vermeintlich seriösen Berechnungen, welche angeblich belegen, dass man mit Hartz IV mehr Geld habe als mit Erwerbsarbeit – auch wenn das schnell als das enttarnt wurde, was es ist: Unsinn.
Hinter diesem Vorstoß steckt aber mehr als das Ziel, Empörung über die angebliche Besserstellung von Hartz-IV-Empfängern zu generieren: der Wille, die bestehenden harten Anrechnungsregeln von Erwerbseinkommen aufzubrechen, um dadurch mehr „Anreize“ dafür zu setzen, dass auch schlecht bezahlte Arbeit angenommen werden muss. Wenn man diesen Weg geht, dann dürfen die Hartz-IV-Leistungen nicht „zu hoch“ sein – sonst würden mit einem Schlag viele Arbeitnehmer, die heute knapp über der Hartz-IV-Schwelle liegen, zu „Aufstockern“ werden. Deshalb benutzt man die andere Debatte, um den Vorstoß der Sozialverbände und der Opposition für die Erhöhung der Hartz-IV-Leistungen abzublocken. Es gibt noch einen weiteren Grund, keinesfalls höhere Leistungen zu ermöglichen: Der Grundfreibetrag in der Einkommenssteuer, der für alle Steuerzahler gilt, würde steigen; dadurch käme es zu Steuerausfällen in Milliardenhöhe.
Fakt ist: Aus fachlicher Sicht sind die heutigen Hartz-IV-Leistungen zu niedrig bemessen, vor allem durch statistische Manipulation bei der Bemessungsgrundlage. Hinzu kommt: 2017 haben die Betroffenen fast 600 Millionen Euro aus ihren knapp bemessenen Regelleistungen für das Existenzminimum nehmen müssen, weil die Jobcenter die Mietkosten nicht in voller Höhe bezahlen, es aber keine billigeren Wohnungen auf dem Markt gibt. Hunderttausende sind monatelang von Kürzungen des Existenzminimums durch Sanktionen betroffen. Tausende sind gar „100-Prozent-sanktioniert“ – das geschieht noch nicht einmal mit Strafgefangenen im Knast.
Es ist bezeichnend, dass bei der Debatte über Hartz IV versus Arbeitseinkommen nicht über die Höhe der Löhne „da unten“ gesprochen wird. Die Niedriglohnschwelle liegt bei zehn Euro pro Stunde – immerhin 21 Prozent aller Arbeitnehmer verdienen unterhalb dieser Grenze.
Unabhängig davon – Hartz IV hat einen ganz eigenen Auftrag. Dazu das Bundesverfassungsgericht im Jahr 2010: „Das Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums aus Art. 1 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem Sozialstaatsprinzip des Art. 20 Abs. 1 GG sichert jedem Hilfebedürftigen diejenigen materiellen Voraussetzungen zu, die für seine physische Existenz und für ein Mindestmaß an Teilhabe am gesellschaftlichen, kulturellen und politischen Leben unerlässlich sind.“
Wenn das die Leitlinie wäre, dann müsste man die Höhe der Leistungen unabhängig bestimmen lassen und nicht die Zahlen so lange foltern, bis sie das gewünschte Ergebnis bringen. Dann müssten die Sanktionen, also die Kürzung des Existenzminimums, fallen. Dann könnte man auch gern über verbesserte Anrechnungsregelungen für Erwerbseinkommen sprechen.
Was passiert wirklich? Die Biedermänner legen als Brandstifter noch einmal nach, diesmal Alexander Dobrindt von der CSU: Er erwarte von der Bundesregierung verstärkte Maßnahmen gegen den Missbrauch bei Hartz IV. Ja, „Hartz-IV-Banden“ müsse das Handwerk gelegt werden. Jetzt sind schon Banden unterwegs! Woher hat er das? Aus der Bild. Die aber hat berichten müssen, dass die Zahl der angestoßenen Straf- und Bußgeldermittlungen wegen möglichen Hartz-IV-Betrugs im Jahr 2017 leicht zurückgegangen sei.
Der Krieg der Worte gegen „die da unten“ geht weiter.
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