Schnell mal in die Tasten hauen, das kann bei Twitter Stress geben. Wenn man beispielsweise CDU-Generalsekretär ist, Peter Tauber heißt und herausposaunt, dass man nicht auf drei Minijobs angewiesen wäre, wenn man was Ordentliches gelernt hätte. Damit zeigte der Spitzenpolitiker nicht nur seine Unkenntnis der Minijobs, denn die meisten haben nur einen und auch im Fall von mehreren Minijobs darf ein Monatseinkommen von 450 Euro nicht überstiegen werden. Viel schlimmer aber ist die Schlussfolgerung, „nichts Ordentliches gelernt“ zu haben und deshalb auf Minijobs angewiesen zu sein. Die Realität: 80 Prozent der Minijobber haben eine Berufsausbildung oder einen akademischen Abschluss. Viele verbinden mit Minijobs Helfertätigkeiten. Die Daten zeigen aber: 52 Prozent der Minijobber arbeiten als Fachkraft, Spezialist oder Experte. Dass die Mehrzahl der Minijobber Frauen sind, sollte sich herumgesprochen haben. Und viele von ihnen arbeiten in Branchen wie dem Einzelhandel, der Gastronomie oder der Gebäudereinigung, wo sie in vielen Regionen gar keine Wahl haben, weil nur noch Minijobs angeboten werden. Und zahlreiche Studien zeigen, dass gerade ihnen Lohn oder andere zustehende Leistungen rechtswidrig vorenthalten werden.
Tauber spricht – ob bewusst oder aus der Hüfte geschossen – in seinem Tweet ein meritokratisches Versprechen an – wenn man „was Ordentliches“ lernt, dann wird man nicht prekär leben müssen und mit wenig Geld abgespeist werden. Immerhin sind wir eine Leistungsgesellschaft. Und die honoriert das. Aber auch hier ernüchtert der Blick auf die Fakten: Der Anteil der Arbeitnehmer, die in Deutschland einen Niedriglohn beziehen, ist im europäischen Vergleich hoch. So verdienen 22,5 Prozent der Beschäftigten unter der Niedriglohnschwelle von 10,50 Euro pro Stunde. Im Euroraum insgesamt kommen nur 15,9 Prozent der Arbeitnehmer mit Niedriglohn nach Hause. Sie haben sogar mehr in der Tasche als deutsche Niedriglöhner.
Dazu passen dann auch die Befunde einer neuen Studie des gewerkschaftsnahen WSI-Instituts: Der Anteil der Working Poor in der EU betrug im Jahr 2014 rund zehn Prozent – gemessen an den Erwerbstätigen zwischen 18 und 64 Jahren. Obwohl sie regelmäßig arbeiten, müssen diese Menschen mit weniger als 60 Prozent des mittleren bedarfsgewichteten Einkommens in ihrem Land auskommen. Deutschland liegt genau im EU-Durchschnitt bei zehn Prozent. Aber: Es sei „besonders bemerkenswert“, dass die Beschäftigungsrate zwischen 2004 und 2014 bei uns stärker als in den meisten europäischen Ländern angestiegen ist („deutsches Jobwunder“), andererseits verzeichnete Deutschland den höchsten Zuwachs an Erwerbsarmut – nämlich schlichtweg eine Verdoppelung seit 2004. Wie das?
Jobwunder in Teilzeit
Das deutsche Jobwunder beruhe der Studie zufolge zu einem großen Teil auf einer Zunahme von Beschäftigung in Teilzeit, häufig im Dienstleistungsbereich, sowie im Niedriglohnsektor – und bei Frauen oft beides zusammen. Die Ausweitung des Niedriglohnsektors sei durch weitgehende Deregulierungen des Arbeitsmarktes, die Kürzung von Transferleistungen und verschärfte Zumutbarkeitsregelungen beschleunigt worden. Was wir hier sehen, ist der Effekt dessen, was Gerhard Schröder in Davos mal als den „besten Niedriglohnsektor“, der in Europa geschaffen wurde, bezeichnet hat. Die „Früchte“ dieser Entwicklung werden jetzt geerntet.
Mit Blick auf den zentralen Arbeitsmarkt werden wir Zeugen einer hochproblematischen Polarisierung der Beschäftigungsstrukturen in unserem Land. Zum einen gibt es „oben“ ganz klar Gewinner, die oberen 60 Prozent verdienen heute mehr als Mitte der 1990er Jahre. Das sind auch jene, die am aktuellen Rand profitieren können, beispielsweise von den Tarifabschlüssen. Das hilft den unteren 40 Prozent aber nicht, die haben heute weniger in der Tasche als Mitte der 1990er Jahre.
An dieser Stelle kann man sagen: Die „Hartz-Reformen“ wirken. Zum einen ist da der deutlich erhöhte Druck, irgendeine Beschäftigung anzunehmen, auch wenn die schlecht entlohnt ist. Und es gibt den Druck auf die „Insider“ und ihre Gewerkschaften, sich weiter bei den Tarifabschlüssen zurückzuhalten, was durch die massive Tarifflucht vieler Arbeitgeber befördert wird. Auch aktuelle Tarifabschlüsse sind angesichts der veränderten Angebots-Nachfrage-Konstellation in vielen Branchen erstaunlich moderat. Einher geht das mit einer Abnahme ordentlich bezahlter Normaljobs. „Die mittleren Einkommensschichten sind im Zeitraum von 1995 bis 2015 um etwa sechs Prozentpunkte geschrumpft. Am oberen Rand sehen wir im selben Zeitraum einen Zuwachs von gut zwei Prozentpunkten und am unteren Rand einen Zuwachs von gut dreieinhalb Prozentpunkten“, schreibt das DIW in Berlin.
Eine leistungsgerechte Bezahlung? Für die unteren 40 Prozent ist das eine Seifenblase. Zugleich hat die soziale Mobilität nach oben – und damit die Hoffnung – abgenommen. Wenn man auf der Gewinnerseite der gesellschaftlichen Polarisierung sein möchte, dann hätte man sich eine „richtige“ Familie aussuchen sollen. Das ist schon bei den „Bildungschancen“ so, gilt aber vor allem beim Erbe. Auch dazu gibt es eine neue Studie von DIW und WSI mit beeindruckenden Zahlen. Bis 2027 wird das Erbvolumen in Deutschland inklusive Schenkungen bis zu 400 Milliarden Euro betragen. Pro Jahr. Es ist klar, dass man nur etwas vererben kann, wenn man auch etwas hat. Ob und wie viel jemand besitzt, ist aber sehr ungleich verteilt, beim Vermögen noch weitaus ungleicher als bei den laufenden Einkommen. Da fällt doch was ab für die Allgemeinheit, könnte man denken – die Erbschaftssteuer. Die Mehrzahl der Erbschaften kann aber aufgrund der geltenden hohen Freibeträge steuerfrei übertragen werden. Das gilt auch für sehr große Vermögen. „Ein Überdenken der letzten Reform der Erbschaft- und Schenkungssteuer im Hinblick auf die gewährten Freibeträge und die Steuerprivilegien für Unternehmensvermögen ist hier anzuraten“, so die Wissenschaftler. Zu Recht, denn ansonsten wird sich die Polarisierung der Einkommens- und vor allem der Vermögensverhältnisse potenzieren.
In anderen Ländern ist die Erbschaftsbesteuerung – als „leistungsloses Einkommen“ – deutlich höher. In der Vermächtnisstudie Das Land, in dem wir leben wollen beschreibt die Soziologin Jutta Allmendinger, dass man hierzulande fast geschlossen der Meinung ist, Besitz müsse in der Familie bleiben. Gegen die vorherrschende Meinung wird sich kaum ein Politiker auflehnen wollen, auch wenn er das Auseinandergehen der Verteilungsschere kritisiert. Die vielen, die kleine Vermögen vererben und ohnehin nicht betroffen wären von der Besteuerung, werden als „emotionalisierte Fußtruppen“ gegen jeden Vorstoß in Stellung gebracht. Große Erbschaften sind große Vermögen. Ist eine stärkere Erbschaftsbesteuerung nicht durchsetzbar, bleibt nur der Weg, endlich eine vernünftige Vermögensbesteuerung einzuführen. Auch dagegen laufen die Apologeten des bestehenden Systems Sturm, aber die Verweigerung ist schwieriger als bei der emotional besetzten Erbschaftsbesteuerung. Man wird die damit verbundenen Mittel brauchen. Das Kaputtsparen der öffentlichen Infrastruktur, die unterbezahlten sozialen Dienstleistungen, die mickrigen Renten selbst von Normalverdienern treffen vor allem die Arbeitnehmer, die was Ordentliches gelernt haben und trotzdem nicht aus dem Hamsterrad herauskommen.
Was ist Ihre Meinung?
Kommentare einblendenDiskutieren Sie mit.