Wieder einmal wird über Hartz IV debattiert. Das hatten wir schon Anfang des Jahres, als der Regierende Bürgermeister von Berlin, Michael Müller, das gerade für die SPD so ungeliebte Kind durch ein „solidarisches Grundeinkommen“ ersetzen wollte. Sofort wurde überall über eine „Abschaffung“ von Hartz IV diskutiert, ohne zu merken, dass das, was Müller da vorgeschlagen hatte, nichts weiter war als eine Ergänzung des bestehenden Systems in Form eines speziellen öffentlichen Beschäftigungssektors für einen überschaubar kleinen Teil der Hartz-IV-Empfänger. Angesichts dessen war und ist die Wortwahl „solidarisches Grundeinkommen“ nichts anderes als Etikettenschwindel.
Man kann getrost davon ausgehen, dass ein zentrales Motiv des Versuchs jenes war, die Begrifflichkeit Hartz IV, die der SPD mehr als müffelnd in den Klamotten hängt, nicht nur wegzubekommen, sondern mit jener eines „Grundeinkommens“ zu ersetzen. Letzteres ist bei vielen Menschen mit positiven Gedanken verknüpft, weil es mit dem Zusatz „bedingungslos“ verbunden wird.
Bürgergeld klingt ja netter
Die SPD hat es nicht leicht bei dem Thema. Die Parteispitze versucht erkennbar, die innerhalb der Partei intensiv geführte Debatte über Alternativen zu Hartz IV einzufangen, ohne das System wirklich in Frage zu stellen. So erklären sich Kapriolen wie das Eindampfen des Gedankens eines Grundeinkommens auf ein „Grundeinkommensjahr“, also 1.000 Euro monatlich für ein Jahr, wenn man zuvor zwölf Jahre als Werktätiger geschafft hat. Der Vorschlag von SPD-Generalsekretär Lars Klingbeil hat die Sabbaticalisten in der Bevölkerung sicher erfreut, aber nicht Millionen Arbeitnehmer, die tagtäglich auf jeden Euro angewiesen sind, um sich und ihre Familien über die Runden zu bringen. Auch dies ein verzweifelter Versuch, den Begriff Grundeinkommen irgendwie in die Welt der SPD zu implantieren, ohne wirklich Konsequenzen daraus ziehen zu müssen.
Während die SPD-Vorsitzende Andrea Nahles den semantischen Überbietungswettbewerb weiter anheizt und nun als neue Zielmarke ein bislang nur schemenhaft umrissenes, aber irgendwie netter klingendes „Bürgergeld“ in die Debatte wirft, wird die SPD auf der einen Seite von der Union abgeblockt, die jede substanzielle Änderung des Hartz-IV-Systems kategorisch ablehnt, und auf der anderen von den Grünen gleichsam links überholt.
Robert Habeck plädiert für ein „bedarfsgerechtes, bedingungsloses Garantiesystem“, das aber ebenfalls „bedingungslos“ nicht ist. Die hoch umstrittene Sanktionsfrage wird hier zwar wesentlich deutlicher angegangen als bei den bisherigen Vorschlägen aus der SPD, zugleich fordert Habeck großzügigere Anrechnungsfreibeträge, wenn Erwerbseinkommen erwirtschaftet wird.
Doch es ist an der Zeit, allen Diskutanten zuzurufen: Mit dem Existenzminimum von fast sechs Millionen Menschen spielt man nicht. Eine „Abschaffung“ von Hartz IV sollte nur in Aussicht stellen, wer eine Alternative hat, wie er die Existenzsicherung von Millionen Menschen garantieren kann. Viele Betroffene werden die Debatten, die teilweise aus parteipolitischen Motiven angezettelt werden, als ernsthaft und als Hoffnungsschimmer sehen und verstehen. Wenn es dann wieder so endet wie angesichts der Machtverhältnisse naheliegend, nämlich im luftleeren Raum, dann werden Enttäuschung und Wut auf die da oben noch größer werden.
Was ist das Kernproblem der ganzen Debatte? Man findet es in dem Eigenschaftswort „bedingungslos“. Mit dem bestehenden Grundsicherungssystem haben wir eine Art „nicht bedingungsloses Grundeinkommen“. Das wird in dem Vorschlag von Habeck nicht in Frage gestellt, denn auch die grüne Garantiesicherung setzt eine – allerdings deutlich weiter als heute gefasste – Bedürftigkeit voraus und bleibt im Fürsorgesystem einer steuerfinanzierten Sozialhilfe. Auch in dieser Reformwelt wird nicht nur das Vermögen geprüft werden, sondern vor allem das Einkommen, bei dessen (Nicht-)Anrechnung Habeck deutlich mehr Spielräume eröffnen will.
Hartz IV ≠ Arbeitslose
Zugleich wird die Abschaffung der Sanktionen in Aussicht gestellt – so sollen Leistungsempfänger Einladungen der Jobcenter ablehnen können, ohne dass sie sanktioniert werden dürfen. Aber auch im Habeck’schen Garantiemodell gibt es wie in allen bedürftigkeitsabhängigen Systemen eine Mitwirkungspflicht der Betroffenen. Wenn die nicht mitziehen bei der Prüfung von Vermögen und Einkommen, dann wird ihnen die Leistung eben nicht gewährt. Man kann es drehen und wenden, wie man will – eine „Lösung“ dieses Problems wird man nur mit einer bedingungslosen Auszahlung hinbekommen. Letzteres aber ist selbst bei einer weitverbreiteten Grundsympathie in der Bevölkerung derzeit und absehbar politisch nicht durchsetzbar. Das kann man beklagen, aber man kann es nicht ignorieren.
Es gibt noch ein anderes Grundproblem, das derzeit wieder schmerzhaft erkennbar wird: Nicht nur in der Politik, auch in den Medien findet eine Gleichsetzung von Hartz IV mit Arbeitslosen statt, die die realen Verhältnisse im Grundsicherungssystem ausblendet: Derzeit sind mehr als 5,6 Millionen Menschen von Hartz-IV-Leistungen abhängig, darunter mehr als 1,6 Millionen Kinder. Nun muss man zwar erwerbsfähig sein, um Leistungen nach dem SGB II zu beziehen, aber von den 4 Millionen Menschen, auf die das zutrifft, sind lediglich 1,5 Millionen offiziell als Arbeitslose bei den Jobcentern registriert. Die Mehrheit gehört aus ganz unterschiedlichen Gründen eben nicht dazu.
Da gibt es 1,1 Millionen Aufstocker, die ihre Erwerbseinkommen mit Hartz-IV-Leistungen ergänzen müssen. Dann sind da Hunderttausende Alleinerziehende, vor allem mit kleinen Kindern, die in ein System wie Hartz IV eigentlich gar nicht gehören. Schließlich: die stillen Helden der Pflege, pflegende Angehörige, derer viele auf Hartz-IV-Leistungen angewiesen sind.
In der Politik aber wird all das auf den angeblichen – aus guten Gründen mehr als fragwürdigen – Erfolg der Hartz-IV-Mechanismen für die Arbeitsmarktentwicklung in Deutschland reduziert und den Reformvorschlägen entgegengehalten, man müsse „die“ Hartz-IV-Empfänger so schnell wie möglich in den Arbeitsmarkt drücken. Das geht nicht nur an der Lebenswirklichkeit vieler Menschen in der Grundsicherung vorbei. Bei nicht wenigen Langzeitarbeitslosen etwa muss man zur Kenntnis nehmen, dass sie, wenn überhaupt, höchstens nach einer langjährigen Förderung wieder auf die heutigen Arbeitsplätze zurückkehren können. Teils sind sie derart gehandicapt, dass eine Integration auf dem normalen Arbeitsmarkt unmöglich erscheint. Hier müsste man sich ehrlich machen und entweder Arbeit als Teilhabe am gesellschaftlichen Leben organisieren – oder aber den Menschen eine würdevolle Absicherung geben. Aus eigener Kraft werden sie an ihrer Situation kaum etwas ändern können.
Noch unterirdischer aber wird die Hartz- IV-Debatte, wenn der Chef der Bundesagentur für Arbeit, Detlef Scheele (SPD), sich dazu hinreißen lässt, von einem „moralischen Lohnabstandsgebot“ zu sprechen. Was soll das sein? Gegenüber Spiegel Online erklärt Scheele: „Eine Kassiererin geht für 1.300 Euro netto arbeiten. Genauso viel bekommt ein Paar mit Kind, wenn man die Wohnkosten einrechnet, ohne arbeiten zu gehen. Die Kassiererin bezahlt das aus ihren Steuern mit, und auch die muss so ein System als gerecht empfinden. Es muss also immer einen gewissen Abstand zwischen einer Grundsicherung und dem Einkommen aus Arbeit geben.“
Das ist perfide. Scheele vergleicht nämlich in einem Abwasch eine Kassiererin mit einem Einkommen aus dem Niedriglohnsektor mit dem nach ganz anderen Kriterien berechneten Bedarf von drei (!) Personen im Grundsicherungssystem. Zugleich legt Scheele damit aber den Finger in eine offene Wunde, die man auch Habecks Konzept vorhalten kann: Sollten die Leistungen im Hartz-IV- oder Garantiesystem erhöht und gleichzeitig die Einkommensanrechnung abgesenkt werden, dann „produziert“ das unter gleichbleibenden Bedingungen tatsächlich zahlreiche zusätzliche Hartz-IV-Empfänger aus dem großen Reservoir an Menschen, die knapp oberhalb der derzeitigen Hartz-IV-Schwellen im Niedriglohnsektor ihr Dasein fristen. Das sind mittlerweile mehrere Millionen Arbeitnehmer. Aber das wäre nicht als ein Problem der Absicherung des gebotenen Existenzminimums in unserer Gesellschaft zu begreifen, sondern als ein Problem des desaströsen Niedriglohnsektors.
Was kann man 2018 realistischerweise fordern? Eine möglichst unabhängige Überprüfung und Anpassung der Regelleistungen im Hartz-IV-System, die eindeutig zu niedrig angesetzt sind. Eine Lösung des Problems mit den Unterkunftskosten, für die mehr als 14 Milliarden Euro ausgegeben werden – und dennoch müssen die Betroffenen mehr als 600 Millionen Euro aus ihren Regelleistungen für nicht gedeckte Mietkosten zahlen. Eine deutliche Begrenzung der Sanktionierung – wobei die logische Frage, wie man ein Existenzminimum, das laut Bundesverfassungsgericht von Staats wegen garantiert werden muss, über Monate und um teils bis zu 100 Prozent entziehen kann, hoffentlich bald eben das Verfassungsgericht beantwortet, im Zuge der seit mehr als zwei Jahren vorliegenden verfassungsrechtlichen Prüfung der Sanktionen. Schließlich sollten wir über die Jobcenter selber reden, den letzten Außenposten des Sozialstaats: Sie sind derart unterfinanziert, dass in diesem Jahr eine Milliarde Euro Fördermittel, die eigentlich Langzeitarbeitslosen zugutekommen sollten, für Mieten und Personalkosten zweckentfremdet werden.
Es gäbe schon jetzt einiges ganz praktisch anzupacken auf der Hartz-IV-Baustelle, bevor dann der große und schöne Neubau kommt, über den die Architekten derzeit noch brüten.
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