Ein feines Gespür für Ideologien

Zum Tod F.K. Waechters Von stolzen Gänsen, verzagten Schweinen und anderen Erniedrigten und Beleidigten

Als mich die Nachricht vom Tod F. K. Waechters erreichte, dachte ich spontan an eine kleine Geschichte, die ich vor langer Zeit mit ihm erlebt habe. Waechter hatte in Amsterdam zu tun, ich begleitete ihn. Eines morgens, wir waren spät ins Bett gekommen und schliefen offenbar lange, klopfte jemand an die Hotelzimmertür, vermutlich die Zimmerreinigung. Waechter schleppte sich verschlafen zur Tür, öffnete, ich hörte Murmeln, die Tür wurde wieder geschlossen, der Zeichner kehrte in sein Bett zurück. "Wer hat geklopft?", wollte ich später am Frühstückstisch wissen. "Eine dralle Blondine", antwortete er. "Bekleidet nur mit einem weißen T-Shirt, darauf stand groß, in rotem Lippenstift - Take me!" Er pflegte so etwas mit wohl dosierter Dramatik vorzutragen, reglosen Gesichts, mit allerdings leuchtend lauernden Augen hinter der randlosen Brille und mit kaum geöffneten Lippen, die sich bei entsprechender Reaktion sofort zu schallendem Gelächter öffneten.

In dieser Begebenheit liegt für mich der Stoff, aus dem die Waechtersche Komik kam; eine für die deutschen Humorverhältnisse am Ende der sechziger Jahre sehr neue Komik. Auf ihre Art reagierte sie auf die geistige Enge und Miefigkeit des Adenauer-Staates, unter dessen allgegenwärtiger Käseglocke eben auch die sexuelle Appetenz von uns damals Jungen zu leiden hatte. Waechter hat diese Komik zusammen mit Robert Gernhard und Fritz Weigle (alias F.W. Bernstein) im Umkreis der Frankfurter Satirezeitschrift pardon entwickelt, vor allem auf den genial komischen Doppelseiten von Wims - Welt im Spiegel.

Damals in Amsterdam haben wir viel politisiert. Waechter war ein emphatischer Achtundsechziger. Seine Art, es zu sein, zeigt allerdings, wie dumm und verlogen das gekaufte "Altachtundsechziger"-Bashing ist, mit dem die Neoliberalen heutzutage ihrer Ängste Herr zu werden versuchen. F. K. Waechter war nämlich ein wunderbares Beispiel dafür, dass man nicht besonders links sein musste, um Achtundsechziger zu sein. Man musste nicht einmal besonders politisch sein. Waechter teilte freilich die damals vorherrschenden Stimmungen, er mochte keine Nazis, er fand, dass die USA in Vietnam nichts zu suchen hatten, und er meinte vor allem, es müsse endlich Schluss sein mit der schwarzen Pädagogik, die seit Kaiserszeiten in deutschen Familien und Schulen überdauert hatte.

Wir haben uns Mitte der achtziger Jahre aus den Augen verloren. Meine Art von Denken war ihm zu dogmatisch und zu ausgeheckt. Sprache und Zeichen der Politik erschienen ihm überhaupt viel zu direkt, zu eindeutig. Er zog es vor, seine Botschaften zu verschlüsseln. Es war ihm recht, dass sie damit eine Art Poesie bekamen, die als Ingredienz von Humor damals neu war. So bediente er sich als Helden vorzugsweise jener Tiere und jener Spezies Menschen, die schwer zu tragen haben an der Last einer Ideologie - Schweine beispielsweise oder Löwen, Mäuse, Bären oder Gänse, allesamt ebenso abgestempelt und in Schubladen einquartiert wie Förster, Bauern, Oberlehrer.

Waechter hatte ein feines Gespür für Ideologien, es war das Gespür des Betroffenen und Leidtragenden. Vielleicht lag seine Schüchternheit schon in den Genen, vielleicht hat den 1937 in Danzig geborenen, nach dem Krieg in Mölln aufgewachsenen Lehrersohn eine entsprechende Erziehung kleinlaut und wortkarg werden lassen. Die schweren alten Männer mit der großen Nase und dem prägnanten Kinn tauchen jedenfalls immer wieder auf in seinen Cartoons. Er machte sich lustig über sie, als hätte er sie überwunden; sie geben keine rechten Feindbilder mehr ab. Er zeigt sie auf einer Eisscholle im Ozean treibend, als "Männer auf verlorenem Posten". Aber es scheint immer auch noch etwas von der alten Kinderfurcht in der Perspektive zu liegen, aus der er sie sieht und zeichnend festhält.

Waechters Strich war ohnehin viel zu weich, zu elegant und zu verliebt in Schnörkel, Häkchen, Flüchtigkeiten, als dass er hätte aggressiv erscheinen können wie beispielsweise die Feder von George Grosz, eine Wiederentdeckung von 68, dessen Linien wie in den Karton geätzt und geritzt erscheinen. Grosz´ geknechtete, pauperisierte, vom Krieg verkrüppelte Proletarier gab es zu Waechters Zeiten nicht mehr. Waechter widmete sich einer anderen Art von Erniedrigten und Beleidigten. "Wahrscheinlich guckt wieder kein Schwein!" denkt die Gans auf dem Titel eines der beliebtesten Waechter-Bücher. Sie hat es endlich geschafft: Kopfstand in einem alten Menschenstiefel! Das Gefühl ewiger Vergeblichkeit nagt trotzdem an ihr. Dieses Gefühl entspricht dem Bewusstsein der eigenen Bedeutungslosigkeit des Schweins im Hintergrund, das die Gänseartistik mit einem bewundernden "Toll!" kommentiert. Es sind die von der spätbürgerlichen "Leistungs"- und Protzgesellschaft Eingeschüchterten und Verzagten, denen Waechters Einfühlung gilt.

Deren Freuden und Träume kennt und liebt er gleichermaßen. Meist verwirklichen sie sich in den herzigen Neigungen skurriler Typen. Zum Beispiel in der nächtlichen Begeisterung eines großstädtischen Schweins für "Käsekuchen, Käsekuchen, Käsekuchen!". Oder im jubelnden "Heidewitzka, Herr Kapitän!", mit dem die Opfer auf dem Täter, die Frösche auf dem Storch, zu Tale sausen wie auf einem Schlitten im "Traum der Breitmaulfrösche." Da rächt sich Waechters Schüchternheit, stellvertretend für Legionen von Mitleidenden, erschöpfend komisch an allen, die ihn je unterdrückt und mundtot gemacht haben.

An Achtundsechzig hat Waechter vor allem das Antiautoritäre interessiert. Für ihn war es - so im Anti-Struwwelpeter oder im Kinderbuch Wir können noch viel zusammen machen - eine Art Selbstbehauptung, durch welche der kleine Mensch in der und durch die Gemeinschaft solidarischer Mitmenschen fähig wird, unlegitimierte Autorität zu entmystifizieren und zu überwinden. Der Bauer, der sich mit einem verächtlichen "Sauhaufen!" über das entspannt fröhliche Chaos im Schweinestall hermacht, ist eigentlich gar nicht richtig böse. Die Säue, die danach in schnurgerader Doppelreihe übereinander antreten, scheinen der Autorität nur zum Spaß zu willfahren. Und noch der den Engländern abgeschaute Nonsense der Waechterschen Reime erscheint wie ein fröhlicher Aufstand gegen die Sinnhuberei deutscher Nachkriegsgermanistik. Zwei meiner Favoriten: "Nie fühlte sich die Sau so fremd / wie in des Bauern Oberhemd" und "Die Gams tat einen harten Schrei / dann sprang sie am Montblanc vorbei."

Waechters Moralität, sein Humanismus gingen aus vom verratenen Kind, das in ihm lebte. In seiner Kunst wurde es mächtig. Es scheint indes, als sei das Kind, als das Alter kam, traurig geworden über einer Welt, die sich immer weiter vom schönen Kindertraum entfernt - vorerst, Fritz!

Stefan Siegert, heute unter anderem Freitag-Kolumnist für klassische Musik, verdiente bis 1990 sein Geld hauptamtlich als politischer Karikaturist.


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