Lauschangriff 2/05

Klassik-Kolumne In Zeiten, da sich die Phonoindustrie in der größten Krise ihrer Geschichte befindet - weniger dramatisch: im technologisch bedingten Umbruch- und ...

In Zeiten, da sich die Phonoindustrie in der größten Krise ihrer Geschichte befindet - weniger dramatisch: im technologisch bedingten Umbruch- und Wandlungsprozess -, ist das Bedürfnis nach neuem und trotzdem gut verkäuflichem Repertoire groß. Eine Alternative: Man führt altes und bekanntes Repertoire in einer Weise auf, dass es klingt, als sei es das erste Mal. So etwas kann der junge Daniel Harding aus Oxford gut. Zwar beklagen sich die jungen und ebenfalls außergewöhnlich begabten und engagierten Musiker seines Mahler Chamber Orchestra (MCO) gelegentlich leise darüber, dass Harding sich bislang nicht gar so sehr an Neuer Musik interessiert zeigte. Die Art indes, in der er sich der nicht neuen Musik des Namenspatrons seines Ausnahmeklangkörpers annimmt, ersetzt das Vergnügen, sich auf Neues, Frisches, nie Gehörtes einzulassen, in einer Weise, die auch Sympathisanten Neuer Musik begeistern kann. Mahlers 4. Sinfonie kommt Hardings Absichten entgegen. Der Komponist hat sie vom Ende her gedacht und gebaut, vom Wunderhorn-Lied von den "himmlischen Freuden" her, das ursprünglich als siebter Satz der 3. Sinfonie vorgesehen war und zum Finalsatz der Vierten wurde. Folge: Alles ist von vorn bis hinten und - im Satzgefüge - von oben bis unten aufeinander und auf das Ende bezogen und wirkt kammermusikalisch schlank wie keine andere Mahler-Sinfonie "für großes Orchester".

Schon in seiner Beschäftigung mit Brahms und Sibelius hatte der juvenil charismatische Rattle- und Abbado-Schüler zu zeigen versucht: Auch an dieser weithin als Paradigma spätromantisch kompakter und gar "dicker" Sinfonik geltenden Musik ist vieles genuin kammermusikalisch zu verstehen. Und ergo musiziert das MCO die 4. Sinfonie in mahlerunüblicher Kammerorchesterstärke; Mahler selbst verzichtete in der Partitur bei vier Hörnern und drei Trompeten auf schweres Blech. Die Musiker brillieren nicht nur im tuttiarmen zweiten Satz in solistischer Manier und toben virtuosen Spaß aus. Schon der schellenschelmische Beginn klingt ungewohnt "dünn"; außerdem - und zumal für einen Tempodirigenten wie Harding - merkwürdig zögerlich. Auch verblüfft auf den ersten Blick, dass er den häufigen Wandel der Ausdruckscharaktere des Kopfsatzes ganz traditionell, das heißt mit Tempowechseln, Ritadandi, Accelerandi und dem dazu gehörigen Rubato bewältigt. Auf den zweiten wirkt die Verbindung von Strukturalität und spätromantischer Gefühligkeit ausgesprochen zeitgemäß und plausibel. Gefühligkeit, ja Sentimentalität sind in Mahlers Musik das unverzichtbare Äquivalent zu titanischem Formwillen, zum alles Poetische und Lyrische kühl "ausmathematisierenden" (Brecht) Verstand. Schließlich sind rückwärtsgewandte Larmoyanz, egomanische Klagelust und melancholische In-Musik-Verwandlung von Intimstem der Motor jener avantgardistisch fruchtbaren Zerstörungswut, mit der bei Gustav Mahler Sinfonik zukunftsfähig wird. So entbehrt das Adagio des dritten Satzes, einer der schönsten langsamen Sätze Mahlers überhaupt, in Hardings Sicht zwar nicht der Zartheit und Seelenweite, wohl aber jeder Monumentalität.

Es ist, als habe Harding hier ein großformatiges Prachtgemälde der Wiener Gründerzeit in ein farbintensives und zeichendifferenziertes Aquarell Paul Klees verwandelt. Bei aller neu hinzu gekommenen Transparenz und Beweglichkeit, einer bei Mahler ungewohnten Eleganz und einem gelegentlich an Kafka erinnernden Witz, bleiben der Musik Ernst und Schwere, ohne die es bei Mahler selbst in den lebenslustigsten und ausgelassensten Momenten nicht zu gehen scheint. Mit mindesten einer Ausnahme - dem Lob des hohen Verstandes aus Hardings Lieder-Auswahl der Mahlerschen Vertonung von Des Knaben Wunderhorn. Da wird nicht nur deutlich, wie kammermusikalisch eben Mahlers Vorstellung vom Orchesterlied als idealtypischer Melange von Menschenstimme und konzertant eingesetztem Orchester war. Wie ausgelassen und lachlustig dem Komponisten offenbar werden konnte, wenn es gegen die - Wagners Beckmesser lässt grüßen - Selbstgerechtigkeit, Beschränktheit und Verblasenheit eselhafter Musikkritik ging.

Mahler: 4. Sinfonie + 3 Lieder aus Des Knaben Wunderhorn - Dorothea Röschmann, MCO, Daniel Harding; Virgin Classics/EMI 5 45665 2


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