Lauschangriff 27/04

Klassik-Kolumne Stimmbänder, Holz, Gedärm und zu Rohren getriebenes Metall fanden in der abendländischen Kunst früh zusammen. Zunächst im Theater; gute tausend Jahre ...

Stimmbänder, Holz, Gedärm und zu Rohren getriebenes Metall fanden in der abendländischen Kunst früh zusammen. Zunächst im Theater; gute tausend Jahre später in der christlichen Liturgie. Anfangs freilich ohne Holz, Gedärm und Metall. Denn Instrumentalbegleitung - eigentlich schon etwas so harmlos Schönes wie die vokale Mehrstimmigkeit - galt der Amtskirche als unsittlich. Nach Giovanni Pierluigi da Palestrinas listigem Taktieren auf dem Tridentiner Konzil Mitte des 16. Jahrhunderts war der Weg allerdings frei: Die katholische Messe konnte im Lauf nur eines Jahrhunderts zum unterhaltsamen Miteinander, Übereinander und Ineinander diverser Stimmen und Instrumente werden.

Indessen, beim Stichwort Messe fällt den meisten Musikfreundinnen und -freunden, keineswegs abwegig, nur Johann Sebastian Bach ein; einigen Blitzgescheiten vielleicht aber auch jener Palestrina, der, obschon kein Priester, aber glücklich verheiratet, den römischen Päpsten musikalisch aufwartete mit Arbeiten wie der in herrlich harmonisierter Vokalpolyphonie dahin perlenden Missa Papae Pacelli (Allegri: Miserere u.a., The Tallis Scholars, Peter Phillips; Gimell/Hyperion CDGIM 339).

So weit zurück in alte Musikzeiten greift der Dirigent Thomas Hengelbrock nicht. Wenn er sich mit knapp weniger alten Zeiten beschäftigt, setzt er seinen Ehrgeiz vor allem daran, das Publikum nicht zu langweilen. Er lässt bekanntes Repertoire spielen, als sei es unbekannt - oder jedenfalls doch wie neu - oder er programmiert unbekanntes Repertoire. Dafür nutzt er die Gewohnheit aller historischen Aufführungspraktiker, gedruckt vorliegendes Notenmaterial zunächst anhand von Autographen und Erstdrucken auf seine Richtigkeit zu überprüfen, zur Ausgrabung immer neuer Werke, die er, so sie es Wert sind, triumphal aufführt.

Einen echten Überraschungserfolg (auch hinsichtlich der Verkaufszahlen) erzielte Hengelbrock mit der Wiederentdeckung von Antonio Lottis abwechslungsreich diesseitigem Requiem (dhm/BMG 0547277507 2), einem Werk vom Anfang des 18. Jahrhunderts, einer Zeit, als Georg Friedrich Händel ein musikalischer Lehrbub war. Dessen Dixit, eine atemberaubend geschwinde Kurzmesse, entstand in Italien. Obwohl der Eröffnungssatz nach Einfallsdichte und motivischen Anklängen ans berühmte Halleluja aus Händels spätem Oratorium Messias erinnert, ist das Dixit erkennbar früher Händel, von der italienischen, speziell venezianischen, Kirchenmusik angeregt, gut durchhörbar, weil sparsam und originell instrumentiert und von Hengelbrocks Balthasar Neumann Ensemble und Chor luzid und spannungsgeladen präsentiert (Caldara: Missa dolorosa; dhm/BMG 8287658792 2).

In der Messe kamen, gleichsam als Begleiterscheinung von Arien und Chorsätzen, Instrumentalmusik und Melodik zu sich. Im Oratorium, dessen Entwicklung nebenbei einen Schritt hin in die Welt bedeutete, wurde das Epische im Wort-Musik-Zusammenhang der Kirchenmusik sich seiner selbst bewusst. Bachs Weihnachtsoratorium als bekanntestes und populärstes Exemplar der Gattung gibt sich zwar noch spirituell erfüllt von der Geburt des Namensgebers der abendländischen Religion. Aber die Erzählung des heiligen Geschehens folgt und frönt auf zukunftsträchtige Weise einer schon fast opernhaft realistischen Dramaturgie (Röschmann, Scholl, Güra, Häger, Akademie für Alte Musik Berlin, Réné Jacobs; Harmonia Mundi France HMC 901630).

Ein dreiviertel Jahrhundert darauf findet sich in zwei späten Oratorien Joseph Haydns nichts mehr von Kultus und Religion. Als Kind einer von real existierender Geschichte noch unbefleckten Aufklärung betet der Komponist vollrohr das Diesseits an. Der belgische Dirigent Réné Jacobs und das Freiburger Barockorchester, haben sich auf ihrer aktuellen Doppel-CD der seltener gespielten Jahreszeiten angenommen. Nicht biedermeierlich tümelnd, landsmannschaftlich und einfaltspinselnd. Sondern scharfsinnig und mit klanglich raffinierter Stimmungsmalerei, die sich einer zu Haydns Zeit hoch modernen Instrumentation verdankt. (Harmonia Mundi France HMC 801829.30). Das Musizieren auf alten Instrumenten, einst kopfmonopolistisch kaltes Dogma, reicht hier fröhlich und farbig - und gerade so, als wäre die Welt freilich zu retten - an die Vermählung von Wissenschaft und Genuss.


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