Lauschangriff 3/04

Kolumne Mittelgroß, mit randloser Brille, staubgrauem Langhaar, in leicht ausgebeultem, ans Äußere eines Lehrers im vorvergangenen Jahrhundert erinnerndem ...

Mittelgroß, mit randloser Brille, staubgrauem Langhaar, in leicht ausgebeultem, ans Äußere eines Lehrers im vorvergangenen Jahrhundert erinnerndem Konzerthabit, pflegt er sich vom Künstlerzimmer durchs Orchester zum Dirigentenpult zu stehlen. Er verbeugt sich sehr kurz und geht unverzüglich ans Werk. Das Publikum kann dann alles erleben: Einen spannungsgeladenen Konzertabend, eine hoch motivierte Kapelle, schöne Stellen, einen farbig durchsichtigen, dramatisch pulsierenden Orchesterklang - die Hexenkraft eines charismatischen Pultstars. Dazu ist Phillippe Herreweghe eher der Gegenentwurf.

Wer ihn interviewen soll, fürchtet nach dem abendlichen Konzerterlebnis am folgenden Morgen am Frühstückstisch womöglich einem verklemmten Menschen zu begegnen, der aus dem Mund riecht nach verknittertem Papier. Stattdessen sitzt da ein freundlich gelassener Skeptiker hinter seinem Capuccino. "Ich bin nur der, der den Leuten zeigt, was in der Musik steckt", sagt er im nuscheligen Deutsch der Flamen. "Ich mache nichts." Eine Untertreibung, fast so gewaltig wie sein Gestaltungswille, seine Klangsensibilität und das leise, offenbar umwerfende Durchsetzungsvermögen, mit dem der heute 54-Jährige seit 30 Jahren in aller Stille eine Bombenkarriere hingelegt hat.

Gestartet als Spezialist für alte Musik, als Gründer des inzwischen auf Weltspitzenniveau agierenden Chors Collegium Vocale und eines auf Barockinstrumenten spielenden Kammerorchesters, der Chapelle Royale, wird Herreweghe - nebenbei gelernter Psychiater - inzwischen auch von der Orchesterelite auf modernen Instrumenten zum Dirigieren eingeladen. Das Musizieren auf alten Instrumenten - mit ihnen allein präsentiert er sich auf den CDs - ist gleichwohl die Grundlage seines Musizierens geblieben. Für Aufführungen des klassisch-romantischen Repertoires hat er 1997 noch das detto "original" instrumentierte Orchestre des Champs Èlysées gegründet.

Charakteristisch für den Klang der Herreweghe-Ensembles ist die althergebrachte, von Leuten wie ihm reanimierte Balance zwischen darmbesaitet sprödfarbigen Streichern und einer Bläsersektion, die über die Hälfte der herkömmlichen Bläserlautstärke verfügt. "Bei einem modernen Orchester", erläutert Herreweghe, "muss ich an gewissen Stellen die Trompeter bremsen, obwohl die Partitur leidenschaftlich kräftige Ausbrüche verlangt, sie würden sonst die Streicher zudecken. Die alten Trompeten aber können dynamisch komplett aus der Haut fahren - sie sind nie zu laut."

In Schuberts As-Dur Messe D. 678 - an kaum einer Komposition hat der geniale Viel-und Schnellschreiber so lange gearbeitet, fast drei Jahre - kommt dieser Umstand vorzüglich dem klanglichen Miteinander von Bläsern, Solosängern und Chor zustatten. Zum Beispiel im Credo - dem übrigens, wie allen Glaubensaufzählungen Schuberts, die Heilige Katholische Kirche fehlt -, dessen dramatische Kreuzigungs- und Auferstehungserzählung vom harmonisch fahlen, großartig natürlichen Gleichklang menschlicher Stimmen und metallener Posaunen und Trompeten lebt oder im jagdlich enthusiasmierten Duettieren von Waldhörnern und Rias Kammerchor im Osanna in excelsis Deo des Sanctus (Harmonia Mundi France HMC 901786).

Wie Schubert hatte auch der Franzose Hector Berlioz (1803-1869) das Problem, sozusagen im Schlagschatten Beethovens aufzuwachsen als Musiker. Wie der wehe, leise Wiener ging auch Berlioz, bei aller Bewunderung für den teutonischen Titanen, schon früh erklärt eigene Wege. Er wurde zum Erneuerer der Orchesterinstrumentation des bürgerlichen Jahrhunderts. Die Besetzung seiner "trilogie sacrée" L´Enfance du Christ ist klein, die von Berlioz beabsichtigte Klangproportion von Holz- und Blechbläser und Streichern kommt in ihrer Transparenz und finsteren Farbigkeit der musikalischen Ästhetik Herreweghes weit entgegen. Berlioz nannte das Werk sein "kleines Heiligenbild". Heilig darin sind freilich Melodien und Trübsal, ein dramatisch gehöhter, harmonisch kühler und intensiver Dämmer. In seiner Originalität und dem Reichtum seines Eigensinns gehört Berlioz gewiss zu den vielen weithin Unentdeckten der klassischen Musik (Veronique Gens, Paul Agnew, Olivier Lalouette, Laurent Naouri, Frédéric Caton La Chapelle Royale, Collegim Vocale, Orchestre des Champs Elysées, HMF HMX 2901632.33).


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