Lauschangriff 3/07

Klassik-Kolumne Gemessen an den Texten Lessings oder Kleists erscheint das Deutsche vernutzt, geflutet in anglizistischer Wichtigtuerei, im harmlosesten Fall hat es ...

Gemessen an den Texten Lessings oder Kleists erscheint das Deutsche vernutzt, geflutet in anglizistischer Wichtigtuerei, im harmlosesten Fall hat es diverse Bedeutungswandel erfahren. Das Wörtlein "unerhört" beispielsweise dient heute der Kommunikation verbalen Protestes oder der Verstärkung eines Attributs. Dereinst hatte es eine andere, eine vor allem für Menschen mit Sinn für musikalische Genüsse sehr schöne Bedeutung. In semantisch direktem Zugriff benannte es den Umstand, dass etwas - es schwingt ein leises "noch" mit - nicht gehört war. Angesichts einer Globalisierung, die weltweit alles standardisiert, ist "unerhört" ein unerhört verheißungsvolles Wort.

Statt um Uraufführungen, Heimat des Unerhörten, soll es heute allerdings einmal mehr um den Reiz des Unvertrauten im vermeintlich Allbekannten gehen. So erscheinen Mozarts späte Sinfonie D-Dur K. 504 ("Prager") und C-Dur K. 551 ("Jupiter"), sattsam vertraut. Gespielt von den Musikern des Freiburger Barockorchester, die sich, Streicher wie Bläser, in Leopold Mozarts Geigenschule auskennen, und dirigiert von Réné Jacobs, der sich Mozart vom Barock und vom Theater her gleich zwiefach richtig nähert, klingen sie allerdings kostbar fremd.

Nikolaus Harnoncourt, einer der Pioniere der historischen Aufführungspraxis, hat sich dem Markt am Ende eitel angedient als Umsatz garantierender, Restaurator des "Eigentlichen" in der Musik der Meister des 18. und 19. Jahrhunderts. Dagegen widmet sich der Belgier Jos van Immerseel der Archäologe des Unvertrauten in Probegrabungen von erfrischend marktfremder Begrenztheit. Für ein Projekt trifft er sich vier bis fünf Mal im Jahr mit seinen Musikern. Sie proben, gehen anschließend auf Tour, nehmen dabei eine CD auf.

Die Salzburger Geigerin Midori Seiler, Konzertmeisterin von Immerseels Projektorchester Anima Eterna tritt zusammen mit dem Pianisten Immerseel auch als Solistin vors Publikum. Wie üblich unter Spielern auf alten Instrumenten vertiefte sie sich für Schuberts Sonaten außer in die Lieder auch in die Violinschulen von Kreutzer und Baillot. Immerseels Kopie eines Hammerflügels und Seilers Geige stammen beide aus dem Wien von 1814. Die Sprache Schuberts klingt hier ungezwungen idiomatisch, als entstünde der schüchterne Charme dieser Werke schon im charaktervoll spröd intensiven Klang der Instrumente.

Immerseel hat auf einer grandiosen CD gezeigt, wie gut der Klaviervirtuose Liszt instrumentieren konnte auch für große Orchester, selbst in den von schlechter Tradition verschlampten Sinfonischen Dichtungen (Freitag 4/05). Anima Eterna ist groß besetzt für Tschaikowskis Sinfonie Nr. 4 sowie - auf einer anderen CD - für eine orchestrale Großtat wie Nikolaj Rimsky-Korsakows Scheharazade. Die Zahl der Geigen - "acht Geiger sind genau so stark wie achtzehn" (Immerseel) - ist gleichwohl kleiner als üblich. Wodurch sich die dynamischen Verhältnisse zwischen Streichern und Holzbläsern entscheidend ändern. "Wenn ich eine Partitur Tschaikowskis aufschlage", begründet der Belgier solche Maßnahmen, "sehe ich Mozart - so detailliert ist alles, so fein, so genial proportioniert". Auch der bislang weithin als pompös und überladen verschrieenen Musik Rimsky-Korsakows kommen die Neugewichtungen zugute. In Händen der stilistisch und spieltechnisch auch hier bestens vorbereiteten Musiker von Anima Eterna entwickelt sie, neben erstaunlichen Farben, bislang unerhörte polyphone Schönheiten.

Ganz besonders sorgfältig recherchiert haben Immerseel und seine Leute offenbar die CD mit Orchestermusik Ravels. Die französischen Saxophone und Bassons stammen exakt aus der Uraufführungszeit von 1928. Historische Aufführungspraxis hat ergo das 20. Jahrhundert erreicht. Der Bolero und La Valse klingen ätzend modern, gereinigt, wie erotisierende Klangexperimente. Karajan und all die anderen - sie stehen da wie eitle Fälscher.

Mozart: Sinfonien K. 504 und K. 551 - Freiburger Bbarockorchester, Réné Jacobs, Harmonia Mundi France HMC 901958; Schubert: Violinsonaten D.384, 385, 408 und 574 - Midori Seiler, Jos van Immerseel; Tschaikowski: Symphonie Nr. 4, Nussknackersuite, Anima Eterna, zig zag territoires/Opus1 ZUR ZEIT 030102; Rimsky-Korsakow: Scheherazade op. 35, Borodine: Polovetzer Tänze, Anima Eterna, zig zag territoires/opus1 ZZT 050502; Ravel:Bolero, Pavane, Concerto für die linke Hand, Rapsodie Espagnole La valse, zag territoires/opus1 ZZT 060901


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