Lauschangriff 30/05

Klassik-Kolumne Weihnachten, das bedeutet hierzulande: immer mehr Schneekatastrophen - und immer weniger wirklicher, kalter, trockener Schnee, der dick und lange ...

Weihnachten, das bedeutet hierzulande: immer mehr Schneekatastrophen - und immer weniger wirklicher, kalter, trockener Schnee, der dick und lange liegt und unter den Sohlen knarrt, wenn der Atem dampft unterm Silberglitzersternenzelt. Es ist auch die Zeit, da die Medien und speziell die Privatradios und die ihnen - warte nur, balde - immer mehr gleichenden dritten Programme besonders viel klassische Musik verbrauchen als Geräusch- und Gefühlskulisse für den faulen Zauber. Wo sonst die Vivaldisierung marschiert, die Rossinisierung und so weiter, glänzt in diesen Tagen Bach. Denn - Händel hin, Schütz her und Barock überhaupt - Bach vor allem ist doch erst Weihnachten!

Aber natürlich ein durchhörbarer Bach, vertraut, bekannt und quotenfähig. Also Weihnachtsoratorium (in einer romantisierenden Interpretation) und ein Paar Häppchen aus den schönsten Konzerten des Thomaskantors plus Ave Maria, gesungen von diesem netten blinden Italiener, wie hieß er doch gleich? Wie weit der Irrsinn aus Banalität und Nichtigkeit, Gedankenleere und Zynismus im neudeutschen Medienalltag schon gediehen ist, mag ein Blick nach England zeigen. Dort wird der Klassiksender der BBC in diesem Jahr zu Weihnachten an fünf Tagen Bachs mehr als tausend Stücke starkes Gesamtwerk präsentieren, wobei es offenbar sogar niemand stört, dass am zweiten Feiertag - mitten im kalten Winter - die österliche Matthäuspassion erklingt.

Also der andere und wenig bekannte, der unwarenförmige Bach, auf den man sich hörend zubewegen müsste, um ihn, gleichsam arbeitend, zu genießen. Zum Beispiel die sechs Violinsonaten, die Andrew Manze, der aktuelle Weltstar der Barockgeige, zusammen mit drei Einzelwerken der Gattung aufgenommen hat. Als Extra und Schmankerl gewissermaßen hat er die Orgel-Toccata in d-moll für die Sologeige "rekonstruiert". Die berühmten ersten Töne dieses Stücks, das zu Bachs bekanntesten zählt, obwohl es, wie man heute weiß, gar nicht von Bach ist, klingen anfangs wie ein Hilfeschrei ins Leere. Manze nutzt dessen dreimalige, immer tiefer gestufte Wiederholung, um die hohe und erfinderische Kunst seiner Tongebung zu demonstrieren: Fahl und opak beim ersten, gleißend transparent (oktaviert durch eine leere Saite) beim zweiten, farbig und körperhaft beim dritten Mal. Erst da klingt die Geige, wie man´s gewohnt ist: gerundet, gewärmt und erfüllt durch Vibrato. Auch die übrigen Stücke dieser CD leben nicht zuletzt vom Einfallsreichtum und der technischen Fantasie Manzes. Er füllt nicht - negativ - die Lücke, die sein nur sporadischer Vibratogebrauch in vibratofixierten Ohren hinterlässt, sondern erfindet - positiv - immer neue Gestaltvarianten des Einzeltons, so dass das Vibrato nur mehr eine Zutat unter vielen ist, die die Musik je nach Gestimmtheit und Logik erfordert.

Mit Ausnahme der Toccata handelt es sich, genau genommen, um Triosonaten. Denn die Hände des begleitenden Cembalisten (Richard Egarr) spielen rechts die zweite Stimme, die freilich meist die Geige begleitet, und links die meist als Basso Continuo grundierende dritte, die Manze - wie seinerzeit Bach - gelegentlich per Gambe oder Cembalo verstärkt (Jaap ter Linden). So steht ein Klangapparat zur Verfügung, der die Ausdruckswelt dieser neun Sonaten, einer Art gedanklichen und klanglichen Konzentrats der groß orchestrierten und hoch gestimmten Bachwerke, üppig pulsierend und reich an Abwechslung darzustellen vermag.

Und wem partout an Weihnachten nach Oratorium und musizierenden Großformationen und Großformen verlangt, dem und der sei Gustav Mahlers Achte Sinfonie anempfohlen, die Sinfonie der Tausend, in der von vorn bis hinten gesungen wird und die sonst immer viel zu groß erscheint für zwei Ohren und viel zu hehr und erhaben für ein kleines Hörerherz. Nun aber ist sie Kent Nagano, bei vollem Personal und inklusive Orgel, Frühlingshymnus und Faust-Finale, fast kammermusikalisch übersichtlich und leidentlich fassbar gelungen. Mahlers einzige Sinfonie ohne Zusammenbrüche und bittertiefe Jammertäler. Viel Jubel, gute Ratschläge und alles - nur keine stille Nacht.

J.S. Bach: Violinsonaten BWV 1014-1019, 1021,1023, 1024, Toccata und Fuge d-mol BWV 625 - Andrew Manze, Richard Egarr, Jaap ter Linden, HMU 907250.51;Mahler: 8. Sinfonie - Dawson, Gambill, Rootering ua., Rundfunkchor Berlin, Deutsches Symphonie Orchester, Kent Nagano, HMC 901858.59

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