Lauschangriff 5/03

Kolumne In den am schönsten und elegantesten eingerichteten Wohnungen leben selten die interessantesten Leute. Dies festzustellen, ist banal; obwohl der ...

In den am schönsten und elegantesten eingerichteten Wohnungen leben selten die interessantesten Leute. Dies festzustellen, ist banal; obwohl der weithin herrschende Konsumismus geradezu von der Gleichung lebt, dass eine glänzende Fassade das detto faszinierende Interieur beinhalte. Auch die Vermarktung klassischer Musik funktioniert so. Wo zum Beispiel Anne-Sophie Mutter draufsteht, ist angeblich immer ein perfekt überwältigendes Klassikerlebnis drin - und sie steht meist auf dem Cover, schulterfrei, shampoolocker und im vollen Glanz der Meisterwerke, die sie luxuriös an- und hinrichtet. Mutters Adaption aller Beethoven-Sonaten zum Beispiel oder ihre aktuelle Neu- und Wiederaufnahme des Beethoven Violinkonzerts oder der Vierjahreszeiten von Vivaldi sind, zumindest für uns Verbraucher, an Überflüssigkeit nicht zu überbieten.

Aber wer kennt beispielsweise SängerInnen wie Simone Kermes, wer Dorothee Mields, Steve Davislim, Johannes Mannov oder Locky Chung? Ich kannte sie nicht, bevor ich die CD von Haydns Schöpfung hörte, die der Dirigent Thomas Hengelbrock mit dem von ihm gegründeten und geleiteten Balthasar Neumann Chor und Ensemble einspielte; ich weiß auch nicht, ob ich mir die Namen merken muss, die Stimmen zählen jedenfalls nicht zur S-Klasse. Aber die Einspielung dieses Renners unter den traurig wenigen Haydn-Werken, die im Konzertsaal des dritten Jahrtausends präsent sind, zählt für mich gleichwohl und eigentlich gerade wegen ihrer »Namen«losigkeit zu den mit Abstand beglückendsten. Hengelbrocks kleine, hochfeine Kapelle gestaltet beispielsweise den frühen Schlüsselmoment dieser Komposition, die triumphale Geburt hehrsten C-Durs aus welttrübem Moll bei den Worten »und es ward Licht!« mit geradezu faustischer Plastizität und Farbenkraft. Die Tempi sind zügig, der Gestus straff, Artikulation und Affekte »sitzen«. Dynamik und Transparenz dieser Interpretation befördern die vielleicht ermutigende Erinnerung an einen Optimismus, der sich der Schöpfung/Natur aufgeklärt und - noch - unschuldig und jedenfalls mit Neu- statt mit Habgier widmete. Ein klares und helles Musikvergnügen, gut geeignet, die finstern Zeitgeister der Gegenwart als die nicht einzig möglichen zu relativieren. (DHM/BMG 05472 77537 2).

Bei der musikalisch überzeugenden Formulierung solcher Dimensionen wirken die Spitzen- und Superstars von heute oft ohnehin nur störend. Mozart gab sich bei der Uraufführung der Zauberflöte für die Rolle des Papageno mit Aloys Schickaneder zufrieden, einem Schauspieler (er war Direktor des Uraufführungstheaters), der des Gesangs nur gleichsam nebenbei mächtig war, aber dafür in der von Mozart hoch geschätzten - zeitgemäß unbedingt französisch zu artikulierenden - »action« reüssierte. Der Komponist verfügte als ausgebuffter Theaterpraktiker zwar über exakte und ausgemachte Vorstellungen davon, was er unter gutem Gesang verstand; sie gingen freilich alle aus vom Inhalt des Singens.

So besetzt auch Hengelbrock seine Produktionen bewusst mit Stimmen eines Niveaus, mit dem die Hofmusiker der Haydn- und Mozartzeit sich, komponierend und darbietend, jeden Tag zu bescheiden hatten. Seine Adaption des Requiems von Antonio Lotti, insoweit nicht nur die Sänger, sondern auch der Komponist heute so gut wie unbekannt ist, war darum ein doppeltes kommerzielles Risiko. Der Dirigent holte die alte Partitur aus der Tiefe eines Musikarchivs ans Licht, edierte sie neu und besetzte die Solopartien mit den - allerdings fabelhaften - Choristen des Balthasar Neumann Chores. Mit Ausnahme des Miserere ist kaum ein Stück länger als zwei Minuten. Lotti, er wurde eine Generation vor Bach geborenen, hat mit dieser Totenmesse überhaupt ein erstaunlich abwechslungsreiches und quicklebendiges Stück geschaffen. Die »kleinen» Stimmen dieser Aufnahme passen so kongenial in den Gesamtklang als dürfte es nicht anders sein, denn »große« Stimmen würden den auditiven »Blick« aufs Geschehen im Orchester glänzend verunmöglichen - und das wäre, so viel tut sich da, nun wirklich jammerschade (DHM/BMG 05472 77507 2).

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