Lauschangriff 9/04

Kolumne Eines der seltsamsten Ingredienzien der Musik ist die Zeit. Eine Sekunde, das war im Verständnis der alten Meister allein der Abstand zwischen zwei ...

Eines der seltsamsten Ingredienzien der Musik ist die Zeit. Eine Sekunde, das war im Verständnis der alten Meister allein der Abstand zwischen zwei Tönen, die in der Stufenleiter - klein, groß, übermäßig - unmittelbar aufeinander folgen. Dagegen gilt der namensgleiche, im Verhältnis zur Nanosekunde urweltlich lange und gemütliche Bruchteil des Zeitlichen erst seit historisch Kurzem als Begriff und Teil des Alltäglichen.

Nirgends in den schriftlichen Äußerungen verblichener Musikgrößen bis etwa Mitte des vorvergangenen Jahrhunderts findet sich die Spur von einer Zeitsekunde, sie war für die Alten als Tonabstand auch musikalisch eine Randerscheinung. Wollten Mozart, Weber oder Schumann den jähen Augenblick kennzeichnen, zogen sie, wenn sie sich nicht metaphorisch oder substantivgestützt aus der Affäre zogen (blitzschnell oder im Nu), schnellstenfalls die Minute in Betracht.

Daraus folgt natürlich nicht, dass die Vergangenheit, nur weil sie als "gut und alt" gilt, heute in langsameren Zeitmaßen zu musizieren wäre. Dass ältere Dirigenten zu bedächtigeren Tempi neigen, jüngere zu straffen bis geschwinden, ist offensichtlich: Je höher das Alter, desto größer eben die Spanne, in der sich das Zeitgefühl zurechtzufinden hat; desto höher auch die Wahrscheinlichkeit, dass gewisse Momente statt mit rasendem Herzklopfen, mit angeregt pulsender Weisheit erlebt werden.

Der österreichische Dirigent Josef Alois Krips war 70, als er 1972 mit dem Amsterdamer Concertgebouw Orchester Mozarts Sinfonien aufnahm. Schon damals kannte ihn kaum jemand; heute ist er komplett vergessen. Der Grund: Er verhielt sich während der Nazizeit ganz anders als sein knapp älterer Landsmann Herbert von Karajan; die Nazis belegten ihn mit Berufsverbot. Auch später spielte er, der in Wien als schlichter Opernkapellmeister wirkte und sich später in den USA und im Vereinigten Königreich verdingte, immer wieder auf Veranstaltungen und in Ländern - zum Beispiel in der UdSSR -, die im damaligen Klassikbetrieb, geprägt vom geistig nie vom Nazismus distanzierten Karajan, karrieretödlich waren.

Seine Aufnahmen mit Mozart- und Schubertsinfonien (Krips´ Discographie ist konfus, zur Zeit gibt es vor allem eine 5 CD-Box Decca/Universal 473121-2 mit Mozart, Schubert, Schumann, Brahms, Dvorak u.a.; was es im Laden nicht mehr gibt, kann man mit Chance bei Amazon bekommen) sind nichtsdestoweniger so lebendig und, indem sie eine klassische Ausgewogenheit von Struktur und Schönklang verwirklichen, so modern, dass man 80 Prozent aller auf CD vorhandenen Mozart- und Schubert-Sinfonien getrost dem erstbesten Recyclinghof überlassen möchte, um Platz zu schaffen für Krips´ Einspielungen.

Obwohl, altersbedingt, noch einem sinfonischen Klangideal verpflichtet, hat Krips, Jahrzehnte vor dem Siegeszug der historischen Aufführungspraxis, mit den weltbesten Orchestern des bürgerlichen Klassikbetriebs einen heute noch gültigen und aufregenden Mozart musiziert. Auf den CDs mit dem Concertgebouw Orchester (s.u.), sie können als das Vermächtnis des 1974 Verstorbenen gelten, klingt Mozart "entgipst" (wie Eisler das Ergebnis seiner Hölderlinbearbeitungen charakterisierte), befreit vom Zwang, entweder bedeutsam, romantisch, tränenreich oder - der ältere Mozartmythos - elegant, verspielt und nur schön zu sein.

Das Geheimnis dieser Interpretationen sind nicht die Tempi. Die geht Krips, besonders in Mozarts späten Sinfonien, erstaunlich langsam an. Neben Transparenz und Durchhörbarkeit besonders der Holzbläser liegen die Gründe für die Spannung, Frische und Schönheit dieser Aufnahmen in der Prägnanz, mit denen sich Krips den Maßnahmen widmet, mit denen Mozart die Zeit musikalisch strukturierte: Taktarten, Tonlängen, Artikulationsvarianten.

Das Ergebnis - zu überprüfen besonders gut in seinen Einspielungen mit dem Concertgebouw Orchester (12 CD-Box; Philips Classics/Universal 454085-2), mit den Wiener Philharmonikern (bei Decca Schuberts zwei letzte Sinfonien und ein denkwürdiger Don Giovanni) und mit dem Londoner Royal Philharmonic Orchestra (eine enorme Haydn-Sinfonie Nr. 104) - ist ein, in dieser Form, nämlich unverkrampft und unaufdringlich, noch nicht und seitdem nicht wieder da gewesener Sinn für die rhythmische Energie der Musik. Aus ihr folgt bei Krips alles andere. Und das ist nicht wenig.


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