Lauschangriff 9/08

Musik Es gibt Dirigenten, die brauchen drei Minuten, dann ist das Publikum Wachs in ihren Händen. Nicht immer liegt es an der Art, Musik zu interpretieren. ...

Es gibt Dirigenten, die brauchen drei Minuten, dann ist das Publikum Wachs in ihren Händen. Nicht immer liegt es an der Art, Musik zu interpretieren. Oft ist es die Ausstrahlung. Der optische Eindruck ist mitunter so stark, dass er den musikalischen überblendet, dann ist Skepsis angesagt: Nicht immer hört man, was man sieht. Und umgekehrt.

Lothar Zagrosek ist ein Dirigent, dessen Bewegungen auf dem Podium schon viele dazu verführt haben, seine Darbietungen für wenig aufregend zu halten. Charisma, meint Zagrosek, sei nicht alles. Pierre Boulez etwa, der große alte Mann der neuen Musik, habe kein Charisma. Oder Herbert Blomstedt, Chef des Gewandhausorchesters zu der Zeit, als Zagrosek die Leipziger Oper leitete: "Ein erfolgreicher Dirigent, kein Charisma." Zagrosek fühlt sich Blomstedt darin verwandt, dass für ihn Dirigieren eine Sache nicht der Ausstrahlung ist, sondern des Handwerks.

Schwierig, mit ihm über die Gefühle zu reden, die Musik auszulösen vermag. Musik, sagt er, sei eine "völlig abstrakte Kunst". Gefühle für Lothar Zagrosek entstehen beim Machen von Musik. Kein Wunder, dass der unauffällige Oberbayer in der Presse ob solcher Überlegungen prompt in der Schublade "Kopfmusiker" landete. Dabei pulst Operettenblut in seinen Adern. Als Zugabe des Silvesterkonzerts 2007 konnten die Zuschauer im Saal des Berliner Konzerthauses und auf 3sat Zagroseks Volldampf-Version der Ouvertüre von Jacques Offenbachs Orpheus in der Unterwelt hören. Die Gefühle in Werken wie Gustav Mahlers Zweiter Sinfonie entstehen aus der Genauigkeit und Umsicht, mit der Zagrosek des Kapellmeister Mahlers Großkunst offenlegt, musikalische Erfindung in Melos, Farbe, Dynamik, Nähe und Ferne einer unerschöpflichen Idee von Instrumentation zu verwandeln.

Zagrosek dirigierte die Opern Mozarts, seines "musikalischen Fixsterns", in den denkwürdigen Inszenierungen der Ära Zehelein an der Stuttgarter Oper. Er war über 60, als er mit dem Stuttgarter Ring in Deutschland bekannt wurde, ein Dirigat voll leidenschaftlich-furorioser Ordnungsliebe. Wenn Lothar Zagrosek Werke wie Beethovens Eroica dirigiert, nutzt er Erkenntnisse historisierenden Musizierens; er organisiert Workshops mit Barockspezialisten für sein junges Konzerthausorchester. Die Ergebnisse sind unspektakulär wie alles, was Zagrosek anpackt: Aus der Vermeidung von Manieriertheit, dem Verzicht aufs Übertreiben entsteht bei ihm das Besondere.

Zagrosek ist Spezialist für vieles. Auf seine Beschäftigung mit der einst so genannten Entarteten Musik haben wir anlässlich Hanns Eislers kantig-trauriger Deutscher Sinfonie hingewiesen (Freitag 4/2003). Zagroseks Untauglichkeit für die kurrente Warenförmigkeit des aktuellen Klassikbetriebs zeigt sich in seinem Spezialistentum für neue und neueste Musik. Herausragend sein Einsatz für Helmut Lachenmanns Erfolgsoper Das Mädchen mit den Schwefelhölzern. In wochenlangen Proben mit den Musikern der Uraufführung in Hamburg und den Produktionen in Stuttgart und Paris trug er entscheidend bei zur Verbreitung von Lachenmanns revolutionär neuer Klangästhetik.

Jüngstes Beispiel: Sein Beitrag zu Apeiron, einem Querschnitt durch die Arbeit des 34-jährigen Schweizer Komponisten Johannes Maria Staud. Vom Solostück für Klavier oder Geige über ein Posaunenkonzert (mit Uwe Dierksen und dem von Zagrosek geleiteten WDR Sinfonieorchester) bis zum großen Orchesterstück (Simon Rattle und die Berliner Philharmoniker) stößt man hier auf eine Musik, die dazu verführt, sich gänzlich einzulassen auf die musikalische Zeit und ihre unverbrauchten Überraschungen.


Mahler Sinfonie Nr. 2. Altus ALT116/7. Wagner Der Ring des Nibelungen. NAXOS 8.660167ff. Lachenmann Das Mädchen mit den Schwefelhölzern. KAIROS 0012282KAI. Beethoven Sinfonie Nr. 3. (alle Staatsorchester Stuttgart, Zagrosek), Altus ALT 135. Eisler Deutsche Sinfonie. Gewandhausorchester, Zagrosek, Decca/Universal 448389-2. Staud Apeiron. WDR Sinfonieorchester, Berliner Philharmoniker et al. KAIROS 0012672KAI.

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