Meeresbezwinger am kleinen Weiher

Lauschangriff Der Pianist Marc-André Hamelin spielt so virtuos, dass man nicht nur glaubt, ihn "schnell spielen gesehen", sondern auch gehört zu haben. Nun hat er Haydn eingespielt

So weit ist es sicher bald, dass sich bei jeder Aufnahme von Soloklaviermusik die Frage stellt: Kann sich, nach allem, was wir heute über den Bau und Klang alter Instrumente und deren positive Ausstrahlung auf die Interpretation wissen, jemand noch guten Gewissens so einfach an einen modernen Konzertflügel setzen und, sagen wir, Haydn spielen?

Einer kann. Der kanadische Pianist Marc-André Hamelin. Nach einer Reihe von CDs mit höchstem Schwierigkeitsgrad hatte er wohl mal Lust auf Einfaches, etwas, das jeder kennt. Er wählte Haydns Musik fürs Soloklavier, seine Auswahl aus etwa 60 vorhandenen Werken ging auf vier CDs. Kennen werden davon die meisten vielleicht die vier letzten Sonaten.

Hamelin gilt als Mann fürs schwer Spielbare und Absonderliche, denn er hat neben Schumann, Chopin oder Brahms vor allem Sachen wie Schschedrin, Kapustin, Godowski oder Roslawetz eingespielt. ­Seine Technik dürfte so makellos sein, wie man es international derzeit selten erleben kann.

Hurtige Schlussrondos

Ein Pianist, der fingerfertig und zugleich richtig spielt bis ins Kleingedruckte, ist bei der Kritik schnell als „Mechanicus“ abgestempelt – so nannte Mozart den Konkurrenz-Virtuosen Clementi, dem es nach Mozarts Eindruck beim Klavierspielen mehr ums Zirzensisch-Rekordverdächtige ging und weniger um die musikalische Erzählung und deren gedankliche Substanz.

Nicht dass Hamelin solchen Problemen aus dem Weg ginge. Viele der kurzen Schlussrondos Haydns etwa nimmt er so hurtig, dass man ihn, wieder Mozart, „eher schnell spielen gesehen als gehört“ hat. Dabei spielt Hamelin, auch wenn er schnell spielt, mit der Exaktheit eines Uhrwerks, durch das das Leben pulst. Er schafft es noch in der größten Geschwindigkeit, auf kleinstem Raum zu differenzieren in Dynamik und Geschwindigkeit. Die Genauigkeit und Musikalität, mit der er Haydns Verzierungskunst realisiert, ist ein Genuss für sich. Haydn war ein Kind des Barock, auch wegen der vielen Cembalos und Klavichords, auf denen er gespielt hat, weil es nichts anderes gab. Hamelin lässt seinen modernen Konzertflügel an den richtigen Stellen, das heißt, in Haydns frühen und – in der Melismatik eben auch der – späteren Sonaten klingen wie ein Cembalo, metallen klar und kurz im Klang.

Der Kanadier hat klavieristische Meere durchpflügt, Orchesterstürmen gestrotzt, Hamelin ist ein Klaviertier, ein Tastenberserker – mit Chirurgenfingern. Mit Haydns Noten nimmt er Gelegenheit, öffentlich kundzutun, wie ihm weiche Binnengewässer liegen, kleine Weiher mit ihren hand­lichen Kostbarkeiten, klassisch proportioniert, will sagen, groß in der Wirkung, aber eher bescheiden in den Abmessungen.

Am Broadwood ab Hoboken 48

Was für die Sonaten in unterschiedlicher Weise gilt. Sie sind nicht allein in unterschiedlichen Entwicklungsphasen des Komponisten entstanden, sondern auch für ein anderes Instrument geschrieben. Den späten Sonaten ab Hoboken 48 hört man an, dass Haydn sie voller Vergnügen an den üppigen Farben und dem vollen Klang des Broadwood-Flügels komponiert hat, den man ihm beim letzten Besuch in London verehrte. Hamelins Klavierkunst macht den Unterschied deutlich. Wer ihn unmittelbar erleben möchte, höre die Aufnahmen des holländischen Hammerflügelspielers Ronald Brautigam, eines in Anschlagkultur und Technik ähnlich großartigen Virtuosen.

Joseph HaydnKlaviersonaten. 4 CDs Marc-André Hamelin; hyperion/codaex CDA67710. Joseph Haydn Komplette Soloklaviermusik Ronald Brautigam; 15 CDs, BIS / jpc Bestellnummer 3464391

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