Tag 11 auf dem Rettungsschiff der "Cap Anamur". Verzweiflung macht sich unter den Flüchtlingen breit. Einige haben aufgehört zu essen. Andere stehen kurz davor in das Meer zu springen. Kapitän Stefan Schmidt hat nur noch eine Möglichkeit: den Seenotfall ausrufen und die Einreise an den Hafen von Porto Empedocle zu erzwingen.
Dieses Ereignis fand heute vor zehn Jahren auf der "Cap Anamur", einem Schiff der gleichnamigen Hilfsorganisation, statt. Die Geschichte der "Cap Anamur" wird nun verfilmt. Die mediale Aufmerksamkeit war enorm und der Kapitän des Schiffs, Stefan Schmidt, erhielt die Carl von Ossietzky-Medaille für besondere Zivilcourage. Elias Bierdel, damals Vorsitzender von Cap Anamur und Mitbegründer von borderline europe, erzählt heute von den Ereignissen.
Auf der Rückfahrt von der westafrikanischen Küste zu den Kanaren rief Stefan Schmidt auf dem Mobiltelefon von Elias Bierdel an, der sich zu dem Zeitpunkt in Deutschland aufhielt. Er berichtete ihm, dass sie auf hoher See ein einsames Schlauchboot gesichtet hatten. Zunächst gingen sie davon aus, es seien möglicherweise Arbeiter, die unterwegs zu einer Öl-Bohrung waren, sagte Bierdel. Es handelte sich aber um 37 Flüchtlinge aus Afrika. Das Schlauchboot verlor bereits Luft, Wasser drang in das Boot und der Motor qualmte. Stefan Schmidt handelte nach dem Schiffsrecht. Es besagt, dass Menschen in Seenot gerettet werden müssen. Die "Cap Anamur" steuerte daraufhin den nächsten Hafen an der sich auf der Insel Lampedusa befand, der jedoch zu klein war, um die Flüchtlinge sicher an Land zu bringen. Es ging weiter Richtung Sizilien. Dort angekommen durfte die "Cap Anamur" nicht anlegen. „Sie haben uns die Einfahrtserlaubnis entzogen“, erinnert sich Elias Bierdel heute, der sich damals auf den Weg nach Sizilien machte.
Somit verharrten sie elf Tage vor dem sizilianischen Hafen Porto Empedocle. Nachdem die Einreise erzwungen wurde verließen die Flüchtlinge das Schiff. Als sie in sauberen Cap Anamur T-Shirts das vermeintliche sichere Land betraten, warf man Elias Bierdel mediale Inszenierung vor. Dabei ging es lediglich darum, dass die Flüchtlinge sich über die saubere Kleidung gefreut hatten. Das einzige Ziel war nur gewesen die Flüchtlinge sicher an einen Hafen zu bringen. Doch 36 der 37 Flüchtlinge wurden wenig später nach Ghana und Nigeria abgeschoben. Elias Bierdel, Stefan Schmidt und der Erste Offizier des Schiffs Wladimir Daschkewitsch wurden der bandenmäßigen Schlepperei beschuldigt und eine Woche lang inhaftiert. Es dauerte fünfeinhalb Jahre bis sie freigesprochen wurden.
Keine Veränderungen in Sicht
Doch wie sieht Lage für Tausende Flüchtlinge aus, die über die Todeszone Mittelmeer den Weg auf die Festung Europa antreten? Seit den Ereignissen vor zehn Jahren hat sich an der europäischen Flüchtlingspolitik nichts geändert. Bis heute wird die Dunkelziffer der gestorbenen Flüchtlinge an den EU-Außengrenzen auf ca. 23.000 geschätzt. Erst nach den tragischen Ereignissen im Oktober vergangenen Jahres kam es bei der italienischen Regierung zu einem Umdenken, was aber auch durch einen Regierungswechsel begünstigt wurde.
An jenem Tag war ein syrisches Flüchtlingsboot vor der Insel Lampedusa in der Nacht gesunken. Die Passagiere an Bord hatten über ein Satellitentelefon die Küstenwache kontaktiert und um Hilfe gebeten. Zuvor wurden sie von Seiten Libyens beschossen. Durch Aufzeichnungen konnte festgestellt werden, dass in unmittelbarer Nähe Frachter an dem Boot vorbei schipperten. Allerdings durften sie den Syrern nicht helfen, da allein die Küstenwache dafür zuständig ist. Nachdem ein Helikopter von der Küstenwache sich auf den Weg machte, haben die syrischen Flüchtlinge ein Notfeuer entbrannt. Da der Motor vorher schon Benzin verlor, kam es auf dem Boot zu einer Explosion, welche 260 Menschen das Leben kostete. Einige Tage davor ertranken ebenfalls etliche Menschen vor der Küste. Daraufhin wurde von der italienischen Regierung die Operation „Mare Nostrum“ ins Leben gerufen. Es handelt sich um ein Vorhaben der italienischen Marine und der Küstenwache zur Rettung von Flüchtlingen. Schon vorher forderte Italien mehr gemeinsame Verantwortung der EU-Länder. Doch das Dublin-III-Abkommen besagt, das die Zuständigkeit für Flüchtlinge einzig nach dem Ort der Einreise in die EU geregelt wird.
Was muss sich konkret ändern? Karl Kopp, Europareferent von Pro Asyl sagt, die Europäische Union müsse zunächst die Seenotrettung finanzieren, da die Boote der Küstenwache chronisch unterfinanziert seien. Den Flüchtlingen müsse man das Recht geben, ihre Verwandten oder Bekannten in anderen Ländern der Europäischen Union zu besuchen. Bisher ist das Asylrecht so eingeschränkt, dass Flüchtlinge den Ort der Einreise nicht verlassen dürfen. Italien benötigt Unterstützung zur Bewältigung der hohen Zahlen an Flüchtlingen.
Generell fehlt es an Solidarität mit den südeuropäischen Länder. Das Problem jedoch ist, dass zwar ein Diskurs wegen den unmenschlichen Verhältnissen geführt wird, doch auch Deutschland stellt derzeit nur 20.000 Plätze für syrische Flüchtlinge zur Verfügung. 14 der 28 EU-Statten haben überhaupt keine Aufnahmeplätze. In diesen Ländern finden öffentliche Debatten nicht statt. Es gab immer nur eine Politik sich die Flüchtlinge vom Leib zu halten. Deswegen stehen wir in Europa vor einer Renaissance des Zaunbaus. An der Grenze der Türkei zu Syrien werden Zäune mit NATO-Stacheldraht gebaut, ähnlich wie vor der Küste von Gibraltar. Dort werden die Zäune von Jahr zu Jahr immer höher. An der Küste der Ägäis werden Flüchtlinge regelrecht zurückgeprügelt. „Push back“ nennt man diese Methode. Die Flüchtlinge werden erniedrigt und ohne Registrierung zurück auf die Boote nach Nordafrika geschickt.
Europa schweigt
Die Lage für die Flüchtlinge hat sich in keiner Weise verbessert und es wird sich auch in absehbarer Zeit an dieser Situation nichts verändern. Die Europawahlen haben ein klares Zeichen gegeben. Durch das Erstarken von rechtspopulistischen und rechtsextremistischen Parteien kann man eher von einer Verschärfung der Grenzen ausgehen als von einer Lockerung. Deutschland trägt dabei eine Mitschuld, denn durch Drängen der Deutschen wurden Sicherheitszonen auf dem Mittelmeer eingeführt. Zuvor konnte jedermann sich noch frei auf dem Mittelmeer bewegen. 2004 folgte die Gründung von Frontex. Eine Organisation, die für die „Sicherung“ der EU-Außengrenzen zuständig ist. Einer der größten Unterstützer: der damalige Innenminister Otto Schily von der SPD. Seitdem Frontex im Einsatz ist haben sich die Außengrenzen zu menschenrechtsfreien Zonen entwickelt. Tausendfach wird gegen die Menschenrechte verstoßen.
Im Jahr 2012 erhielt die Europäische Union den Friedensnobelpreis, weil sie für sechs Jahrzehnte Frieden geehrt wurde. Es ist grotesk, wenn man bedenkt, welche Horrorszenarien sich vor den Küsten Europas abspielen. Die Flüchtlinge wollen nach Europa, weil sie dort eine bessere Zukunft sehen oder vor dem Bürgerkrieg in ihrem Land fliehen. Sie suchen den Weg nach Europa, weil sie durch den Rohstoffraubbau Europas keine Perspektive in ihren Heimatländern sehen. Doch sie nehmen ihr Leben in Kauf, um die Festung Europa zu erklimmen. Wie extrem und verzweifelt die Lage im Mittelmeer ist, zeigt die Aussage der Bürgermeisterin von Lampedusa, Giusi Nicolini, von 2012: „Mich regt das Schweigen von Europa auf, das gerade den Friedensnobelpreis erhalten hat, und nichts sagt, obwohl es hier ein Massaker gibt, bei dem Menschen sterben, als sei es ein Krieg“.
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