Ein magischer Abend

Eventkritik Pearl Jam kehren nach vier Jahren in die Wuhlheide zurück. Für die Band ist die Bühne ein besonderer Ort, an dem sie erneut einen einzigartigen Auftritt hinlegten

Eddie Vedder schlurft mit verschränkten Armen auf die Bühne. Der Rest der Band trottet hinterher. 10.000 Menschen in der Berliner Wuhlheide feiern sie dafür frenetisch. Pearl Jam sind eine der wenigen Bands, die seit mittlerweile 22 Jahren ihren Weg geht. Und sie sind die einzige Band aus Seattle, die in den Neunzigern gehypted wurde und bis heute erfolgreich ist. 20 Jahre ist es inzwischen her, dass Kurt Cobain, der unfreiwillige Posterboy des sogenannten Seattle-Sound, Selbstmord beging. Alice in Chains und Soundgarden lösten sich auf. Pearl Jam nicht. Vermutlich auch, weil sie sich vielen Erwartungen verweigerten: drei Jahre lang gaben sie keine Interviews, keine Konzerte, drehten keine Musikvideos – auch zum Leid ihrer Fans. Sie klagten gegen Ticketmaster, weil sie mit den hohen Preisen auf ihren Konzerten nicht einverstanden waren. Und sie machten trotz der Tragödie vom Roskilde-Festival im Jahr 2000 weiter, als mehrere Zuschauer bei einem Auftritt vor ihren Augen zu Tode kamen. Die Gespräche mit den Hinterbliebenen, so erzählt es Vedder, haben sie gestärkt weiterzumachen. Und ihre treue Anhängerschaft.

Die Wuhlheide ist ein bedeutsamer Ort für Pearl Jam. Als sich Roskilde vor vier Jahren zum zehnten Mal jährte, hielt Vedder hier eine Laudatio, er trauerte, er kämpfte mit den Tränen, seine Stimme zitterte. Dass er diesem Ort verbunden ist, wird auch heute während des dreistündigen Konzerts spürbar. Er habe zu Hause einmal, erzählt er, ein klassisches Konzert im Fernseher angeschaut, dass ihn furchtbar langweilte, weil alle saßen. Dennoch habe er bis zum Ende durchgehalten, weil es sich eben um die Wuhlheide handelte.

Eddie Vedder nimmt einen großen Schluck aus der Rotweinflasche. Die ersten drei Songs sind verdächtig ruhig. Eine kleine Aufwärmphase. Die Elektrizität ist schon spürbar, der Funke ist aber noch nicht übergesprungen. Dann das gewaltige, punkige „Why Go“ aus dem Album „Ten“, das Pearl Jam Anfang der 90er zu Weltstars machte. Wie ein Donnerschlag entlädt sich der Song. Ab diesem Moment, man kann es nicht anders sagen, ist der Abend magisch, die Dynamik einzigartig. Ruhigere Stücke wie „Sirens“ aus dem neuen Album „Lightning Bolt“ wechseln mit schnellen Rocknummern („Do the Evolution“) ab, die wie eine Welle über die jubelnde Masse schwappen. Es ist auch immer diese faszinierend tiefe Stimme von Vedder, die einen in den Bann zieht und nicht mehr loslässt. Natürlich dürfen „Jeremy“, „Even Flow“ und „Alive“ nicht fehlen. Hymnische Lieder, die das Lebensgefühl der Generation X auf den Punkt brachten. Die Setlist deckt fast alle Alben ab. Es sind nicht immer ihre besten Nummern dabei, doch das spielt keine Rolle. Die Fans singen bei jedem Lied enthusiastisch mit.

Sie wollen ihr Publikum genau so sehen, wie das Publikum sie sieht

Aber es sind auch die kleinen Dinge, die den Abend in der Wuhlheide einzigartig machen. Nach knapp zweieinhalb Stunden wird Vedder auf ein kleines Mädchen in den ersten Reihen aufmerksam, die mit Riesenkopfhörern auf den Schultern ihres Vaters sitzt. Als er sich nach ihrem Namen erkundigte, bittet er die Zuschauer sie zu begrüßen. Bei drei ertönt ein lautes „Hi Mathilda“. Sie winkte dem Publikum zu, die Band winkte zurück. So etwas habe ich auf einem Konzert noch nie erlebt. Oder als ein Basketball auf die Bühne geworfen wird. Vedder, der den Ball ein wenig auf dem Boden tippte und an Bassist Jeff Ament übergibt, der den Ball auf seinem Finger jongliert. Man mag diese Szenen pathetisch finden, doch wer Pearl Jam seit vielen Jahren hört, der weiß, dass sie keine Show abliefern. Dass sie das nicht nötig haben.

Als Pearl Jam ihr erstes Album veröffentlichten, war ich sechs Jahre alt. Mit 16 entdeckte ich ihre Musik für mich. Ich habe schon Konzerte von vielen Bands erlebt, aber nicht eines wie dieses. Sie geben den Fans das Gefühl: „Hey, wir sind wie ihr!“ Beim Song „Porch“ klettert Vedder auf das Metallgerüst. In jungen Jahren hangelte er sich noch in schwindelerregender Höhe über die Bühne. Heute reichen ihm sechs Meter über den Boden. Man könnte nun fragen, ob er das mit seinen fast 50 Jahren wirklich noch nötig hat. Doch eine Aktion wie diese machen die Besonderheit von Pearl Jam eben aus. Man merkt der Band an, welchen Spaß sie hat. Nach der (Überlebens)-hymne „Alive“ folgt „Rockin' in The Free World“, ein Cover von Neil Young & The Crazy Horse. Am Ende kniet Eddie Vedder vor den jubelnden Fans. Er applaudiert für sie. Und er strahlt.

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Geschrieben von

Stefan Simon

Journalist in Süd-Ost-Niedersachsen, kommt aber eigentlich aus Süd-Hessen. Schreibt jetzt wöchentlich über politische und gesellschaftliche Themen.

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