Dranbleiben

Literatur Nach 438 Tagen NSU-Prozess zieht das Recherchekollektiv NSU-Watch Bilanz
Ausgabe 41/2020

Thomas Haldenwang steht als Verfassungsschutzchef gemeinhin für einen Neuanfang, nachdem sein Vorgänger Hans-Georg Maaßen 2018 abtrat. Jedoch flog kürzlich auf, dass ein Rechtsradikaler als Personenschützer Haldenwangs gearbeitet hatte. Aufmerksame AntifaschistInnen irritiert bei der Vielzahl an Pannen, welche kaum angefochtene Integrität der Verfassungsschutz (VS) genießt – vor allem nach den Ungereimtheiten im NSU-Komplex. Zwei Tage vor Bekanntwerden der Causa Haldenwang trat der NRW-Innenminister Herbert Reul (CDU) vor die Kameras: gegen mindestens 29 PolizistInnen werde ermittelt, da sie Nazipropaganda verbreitet oder konsumiert hatten. Inzwischen ist von über 100 die Rede.

Eigentlich, so beteuerte Reul im heute-journal, sei seine Behörde schon lange präventiv tätig: „Wir überprüfen alle, die in die Polizei kommen, vom Verfassungsschutz“, und ein nun einbezogener Sonderermittler komme extra „nicht aus der Polizei, sondern ist der stellvertretende Chef des Verfassungsschutzes“; so ermittele Polizei nicht gegen sich selbst. Wenn ein Bock schon über Haselnusssträucher hergefallen ist, stellt man also weitere Böcke als Hilfsgärtner ein, damit Rosen und Geranien auch noch dran glauben.

Milde Urteile gegen Helfer

Nachdem sich der NSU selbst enttarnt hatte, war der VS primär darum bemüht gewesen, eigene Aktivitäten zu verschleiern. Wie das Kollektiv NSU-Watch in Aufklären und Einmischen. Der NSU-Komplex und der Münchener Prozess schreibt, „wurden am 11. November 2011 im Bundesamt für Verfassungsschutz zahlreiche Akten geschreddert (…). Die Behörden versuchten wiederholt, ihre Geheimdienst- beziehungsweise Staatsschutzkenntnisse über neonazistische Akteur/innen und deren bundesweite Netzwerke verschwinden zu lassen (…).“

Dabei kam dem VS zupass, dass die Opfer und deren Angehörige im Fokus der Polizei standen. Ins Blaue hinein war eine Nähe der Opferfamilien zu kriminellen Milieus konstruiert worden. Hinweise auf rechten Terror dagegen habe man laut NSU-Watch ignoriert. Aufklären und Einmischen setzt einer Tendenz in staatlichen Institutionen, bis in die Gegenwart Opfer zu beargwöhnen, eine beachtliche Recherche entgegen und fokussiert, das ist als besonders gelungen hervorzuheben, die Perspektive bislang zu Unrecht Beschuldigter. Für sie habe das einseitige Vorgehen Rufmord und Retraumatisierung bedeutet. Als Botschaft seitens des Staatsapparats hörten die Angehörigen der Opfer heraus: Wir sind auch künftig nicht gewillt, euch zu schützen.

Rechtsterroristen dürften rasch begriffen haben, dass ihnen gegenüber der Verfolgungseifer lasch bleibt. Auch milde Urteile, wie sie das Oberlandesgericht München im Juli 2018 gegen André Eminger, Holger Gerlach, Carsten Schultze und Ralf Wohlleben als Unterstützer der Hauptangeklagten Beate Zschäpe verhängte, signalisieren der Neonazi-Szene: Macht ruhig so weiter. NSU-Watch hat allen 438 Verhandlungstagen beigewohnt und den Prozess peu à peu in einem Blog dokumentiert. In Aufklären und Einmischen zeichnet das Kollektiv den NSU als Folge eines gesellschaftlichen Rechtstrends nach. Das Buch erinnert an die Brandanschläge Anfang der 1990er Jahre in Rostock-Lichtenhagen und anderswo sowie ein die Täter bestärkendes Klima: „Die Mehrheitsgesellschaft reagierte auf unübersehbare nationalistische und rassistische Umtriebe bestenfalls mit Desinteresse, schlimmstenfalls mit Akzeptanz.“

Damals vernetzten sich Beate Zschäpe, Uwe Böhnhardt und Uwe Mundlos in der Jenaer Neonazi-Szene mit international agierenden Blood-and-Honour-Rassisten. Hier sind die Grundlagen für die Morde an Enver Şimşek, Abdurrahim Özüdoğru, Süleyman Taşköprü, Habil Kilic, Mehmet Turgut, Ismail Yaşar, Theodoros Boulgarides, Mehmet Kubaşık, Halit Yozgat und Michèle Kiesewetter zu suchen. Der Staatsanwaltschaft und Manfred Götzl, dem Vorsitzenden Richter in München, wirft NSU-Watch Blindheit vor: Von vornherein sei eine „enggeführte Anklageschrift“ vorgelegt worden. Deren Kernthese, nach der nur das „Trio“ Zschäpe, Böhnhardt, Mundlos zum NSU gehört habe, sei mit dessen Netzwerkcharakter nicht zu vereinbaren. Dennoch folgte das Gericht der „Trio“-These.

Während der als quälend lang beschriebenen Prozesszeit hätte sich NSU-Watch von Götzl mehr Empathie für die Opfer gewünscht: Gefühlsausbrüche İsmail Yozgats, der seinen Sohn 2006 in einem Kasseler Internetcafé erschossen vorgefunden hatte, seien Götzl gar eine Ermahnung wert gewesen – einschließlich einer Rauswurf-Drohung. Dagegen habe er „die meisten Zeug*innen aus der Neonazi-Szene eher sanft“ behandelt. NSU-Watch vermutet dahinter teils „hilflose Versuch(e), seiner Rolle als Garant (ein)er Ordnung gerecht zu werden“, nicht etwa Sympathien für Rechtsradikale.

Opfer stärken

Trotz mancher Härte gegenüber den Hinterbliebenen habe der Prozess auch sichtbar gemacht, wo sich ihnen Potenzial zur „Selbstermächtigung“ bot. Unter anderem habe es sich in Yozgats „Störung der Ordnung“ entfaltet. Betroffene von Rassismus zu stärken, damit sie sich in ähnlicher Weise in die Offensive begeben, ist neben dem Bedarf, Licht ins Dunkel zu bringen, der Grund für NSU-Watch gewesen, Aufklären und Einmischen herauszubringen. Noch Unmengen wären zu erhellen, zum Beispiel die ominöse Anwesenheit des VS-Mitarbeiters Andreas Temme in dem Kasseler Internetcafé am Tattag. Ob der VS selbst noch an der Aufklärung beteiligt sein sollte, ist fragwürdig. Umso wichtiger wird sein, dass unabhängige BeobachterInnen dranbleiben. NSU-Watch gebührt schon jetzt großer Dank. Den AutorInnen des Buches ist eine breite LeserInnenschaft zu wünschen.

Info

Aufklären und Einmischen. Der NSU-Komplex und der Münchener Prozess NSU-Watch Verbrecher Verlag 2020, 232 S., 18 €

Der digitale Freitag

Mit Lust am guten Argument

Die Vielfalt feiern – den Freitag schenken. Bewegte Zeiten fordern weise Geschenke. Mit dem Freitag schenken Sie Ihren Liebsten kluge Stimmen, neue Perspektiven und offene Debatten. Und sparen dabei 30%.

Print

Für 6 oder 12 Monate
inkl. hochwertiger Weihnachtsprämie

Jetzt sichern

Digital

Mit Gutscheinen für
1, 6 oder 12 Monate

Jetzt sichern

Dieser Artikel ist für Sie kostenlos. Unabhängiger und kritischer Journalismus braucht aber Unterstützung. Wir freuen uns daher, wenn Sie den Freitag abonnieren und dabei mithelfen, eine vielfältige Medienlandschaft zu erhalten. Dafür bedanken wir uns schon jetzt bei Ihnen!

Jetzt kostenlos testen

Was ist Ihre Meinung?
Diskutieren Sie mit.

Kommentare einblenden