Geredet wird über die Hauptschule viel und zumeist nichts Gutes. Hauptschüler ist ein Begriff, der negative Vorstellungen assoziert: bildungsresistent, gewalttätig, moralisch verwahrlost. Fragt man Hauptschüler, was ihrer Meinung nach andere über sie denken, bekommt man diese Pejorative zu hören: „dumm“, „faul“ oder „Psycho im Kopf“. Mancher Hauptschullehrer, mit dem ich während der Feldforschung für meine Dissertation sprach, nennt seine eigene Schule „Irrenhaus“, oder „Idiotenschule“.
Solche Schmähungen treffen die Schüler nach Ende der Schule besonders hart – in einer biografischen Phase, die für Jugendliche eine zentrale Rolle bei der Ausbildung einer Identität spielt. Die Frage „Wer bin ich?“, die sich dann mit Nachdruck stellt, ist häufig gekoppelt an die Frage: „Was möchte ich werden?“ Das eigene Selbst wird mit Blick auf eine Zukunft eingeschränkt geformt: Viele Wege bleiben ihnen versperrt, zahlreiche Türen verschlossen. Das Spannungsfeld zwischen Träumen, Ängsten und dem letztlich eingeschlagenen Weg möchte ich am Beispiel von Niklas schildern – einem 18-jährigen Hauptschüler aus Berlin-Lichtenberg, den ich 2008/09 für 18 Monate begleitete.
Bescheidene Wünsche
Am Beginn orientierte sich Niklas in seinen Berufswünschen am Vorbild seines Stiefvaters, wollte wie dieser einmal in einer „großen Firma“ arbeiten. „Ich hatte auch so meine Träume, zum Beispiel, wo ich mich hier bei BMW beworben habe, wo Papi auch arbeitet. Da hab ich dann auch gedacht: Ach, wär‘ das schön, wenn du da auch wärst! Und dann halt schön Geld verdienen und ein paar Sachen so leisten, schöne Sachen: in Urlaub fahren oder eine schöne Wohnung, sowas in die Richtung. Und vielleicht mal eine Familie gründen.“
Wenn Hauptschüler sich ihre Zukunft vorstellen, formulieren sie wie Niklas meist recht bescheidene Wünsche: sicherer Beruf, festes Einkommen und eine eigene Familie – das mag kleinbürgerlich klingen oder wie aus der Zeit gefallen, ist aber Ausdruck von sozialen Situationen, in denen die Sicherung grundlegender Existenzbedürfnisse infrage steht. Hauptschüler träumen von Dingen, die ihnen vorenthalten bleiben: gute Arbeitsplätze, stabile Familienverhältnisse, ökonomische Sicherheit.
In Niklas’ Ausspruch „Ach, wär das schön“ schwingt schon die Melancholie eines unerreichbaren Wunschbildes mit. Wie die meisten Hauptschüler hat er bei den Einstellungstests großer Firmen kaum eine Chance. Das „schöne Leben“, das er sich in einer Art Tagtraum ausmalt, oder auch nur eine Zukunft zu haben – für Niklas bedeutet das, nicht mehr den mit der Suche nach einem Ausbildungsplatz verbundenen, beständigen Druck zu verspüren, der sich in Alpträumen und Depressionen äußert.
Hauptschüler werden in Berlin bereits während der neunten und zehnten Klassen in obligatorischen Schülerpraktika damit konfrontiert, dass Zukunftsträume unerfüllt bleiben werden. Die Versuche, einen unbezahlten Praktikumsplatz zu finden, nehmen die Stigmatisierung auf dem Arbeitsmarkt vorweg. Einige Firmen nutzen die Lage der Absolventen aus, indem sie diese ohne Entlohnung mehrere Wochen zur Probe arbeiten lassen. Bei einem Treffen einige Monate später fällt es Niklas nach einem erneuten Misserfolg schwer, den Glauben nicht zu verlieren: „Ich hatte jetzt wieder ein Bewerbungsgespräch und danach drei Wochen Probepraktikum in einem Maschinenlager. Aber die haben sich danach einfach nicht mehr bei mir gemeldet. Ich habe dann mal angerufen und nachgefragt, und dann haben sie gesagt, es sieht schlecht aus wegen wirtschaftlicher Gründe. Da habe ich gemerkt, es ist halt jedes Mal wieder das Gleiche. Und da verliert man so ein bisschen die Hoffnung.“
Ihm bleibt in dieser Situation, wie vielen der von mir begleiteten Jugendlichen, kaum eine andere Wahl, als auf die Weiterbildungs- und Überbrückungsangebote von Oberstufenzentren und Jobcentern zurückzugreifen. Die bald darauf folgende Tätigkeit in einer „Maßnahme“ für Metallbearbeitung empfindet Niklas als „bloße Zeitbeschäftigung“, die ihn zwar täglich stark beansprucht, ihm aber darüber hinaus keinen Sinn vermittelt. Weder ermöglichen die sich ständig wiederholenden Tätigkeiten ihm einen Lernerfolg, noch verspricht ein guter Abschluss bessere Chancen auf dem Arbeitsmarkt. Aus seiner Sicht scheint es darum zu gehen, den Tag nicht zu Hause zu verbringen.
Fatalistische Weltsicht
Niklas wird dabei mit den Zumutungen eines staatlichen Sozialsystems konfrontiert, das selbst immer stärker an den Imperativen des „unternehmerischen Selbst“ anstelle einer Idee von „sozialer Fürsorge“ ausgerichtet ist. Arbeitssuchende werden demnach beständig „aktiviert“, so dass Jugendarbeitslosigkeit wie Arbeit erscheint, ohne entsprechend bezahlt und respektiert zu werden. Von seinem Berufswunsch, einem guten Arbeitsplatz, möglicherweise im Metallbereich, musste Niklas sich im Laufe unserer Zeit verabschieden. Für ihn ging es bald darum, überhaupt einen Beruf zu finden. Als wir uns verabschieden, hängt er im Maßnahmenapparat fest.
Hauptschüler sehen sich zwar den Anforderungen an das „ökonomische Selbst“ gegenüber, gleichzeitig wird ihnen Wertschätzung und Belohnung für die Befolgung der Marktregeln – Bewerbungsschreiben, Leistungsbereitschaft – weitgehend verweigert. Die Aufrechterhaltung eines positiven Selbstentwurfes wird schwierig, wenn die Absolventen vor allem Erfahrungen im Scheitern machen. Zukunft ist dann von Ängsten vor einem „Abrutschen“ in die Arbeitslosigkeit besetzt.
Fast alle Hauptschüler, die ich kennengelernt habe, fürchten sich davor, auf staatliche Sozialleistungen angewiesen zu sein. „Hartz IV“, „Arbeitsamt“ oder „Jobcenter“ werden zu Schreckbildern. Doch Hauptschüler ängstigen sich in gewisser Weise auch vor sich selbst. Eric aus Lichtenberg, der seit dem Tod der Mutter in einem Heim wohnte, sehnt sich einerseits danach, mit 18 Jahren endlich aus dem Heim auszuziehen, hat aber andererseits durch die Erfahrungen älterer Heimbewohner große Angst davor, die Verantwortung für die eigene Wohnung „nicht auf die Reihe zu kriegen“. Safa, eine Neuköllner Schülerin, fürchtete sich dagegen vor allem davor, sich ihrem Schicksal zu fügen und ihre eigenen Träume aus dem Blick verlieren: „Ich habe Angst, dass ich mit dem Lernen aufhöre. Ich will eigentlich weiter machen, aber zurzeit bin ich ein bisschen faul geworden. Irgendwie will ich nicht mehr lernen und hab keine Lust drauf.“
Auffallend an den Lebensgeschichten der Hauptschüler war die Vielzahl an traurigen und potentiell traumatischen Ereignissen: Scheidungen, Todesfälle im engeren Umfeld, Geschichten von Flucht und Vertreibung, schwere Krankheiten, Unfälle oder Straftaten schienen die Regel zu sein. So fürchtete sich Niklas davor, dass „irgendwas schief geht“ oder er „später mal nicht so mit dem Geld umgehen kann“. Seine Sorgen hängen dabei mit dem Schicksal des leiblichen Vaters zusammen, der nach einem Motorrad-Unfall querschnittsgelähmt ist und mehrmals versucht hat, Selbstmord zu begehen; sowie mit dem des hochverschuldeten Bruders, der aufgrund mehrerer Unfälle ebenfalls arbeitsunfähig geworden ist.
Durch die nur schwer rückgängig zu machenden Selektionsmechanismen des dreigliedrigen deutschen Schulsystems verfestigen und wandeln sich Negativerlebnisse zu dauerhaften Exklusionserfahrungen, die Probleme für den späteren Lebensweg bedeuten. Manche Hauptschüler tendieren zu einer fatalistischen oder resignativen Sicht auf die Welt. Damit korrespondiert, die Natur als schicksalhaft, das Leben als ständigen Kampf oder unbarmherzige Lotterie wahrzunehmen. Wie Niklas sagte: „Meistens hat man Pech, zum Beispiel bei Einstellungstests. Oder jetzt bin ich schon wieder erkältet. Dabei hatte ich doch gerade erst einen Schnupfen! So was denke ich manchmal, aber was soll’s.“
Identitätsbildung erscheint in dieser alltagspraktischen Perspektive nicht als heroischer Akt, wie ihn die Geschichte vom Aufstieg erzählt. Die Frage „Wer bin ich?“ stellt sich für Hauptschüler unter erschwerten Bedingungen. Die Antwort formulieren Brüche, Barrieren und Enttäuschungen.
Steffen Wellgraf ist Kulturwissenschaftler. Seine Dissertation, die dem Text zugrunde liegt, ist bei Transcript erschienen: Hauptschüler. Zur gesellschaftlichen Produktion von Verachtung.
Noch nie war die soziale Mobilität hierzulande so gering wie heute. Nie gelang es weniger Menschen, ihr Milieu zu verlassen und aufzusteigen. Warum ist das so? Wer ist schuld an dieser Entwicklung? Und: Können wir das ändern? Auf diese und andere Fragen werden wir in den nächsten Wochen Antworten suchen. Zu den weiteren Beiträgen der Serie
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