Ändere dein Leben

Performance Das Künstlerkollektiv Odyssey Works greift direkt in den Alltag eines Menschen ein – mit tief greifenden Folgen
Ausgabe 26/2018

An einem Sonntagnachmittag betritt Carl Collins in einem zerknitterten Hemd und kurzen, schmutzigen Hosen eine Raststätte an einer Schnellstraße irgendwo im Bundesstaat New York. An der Bar verfolgen ein paar Leute ein Autorennen im Fernsehen. „Wo kommst du denn her?“, fragt einer. „Ich hab keine Ahnung“, antwortet Collins, „war auf so ’ner Feier letzte Nacht und meine Freunde haben mir Geldbeutel, Schlüssel und Handy weggenommen.“ Der Mann schaut ihn verdutzt an. „Du solltest dir mal bessere Freunde suchen!“ Collins nickt nur amüsiert. Er versucht erst gar nicht, die Wahrheit zu erklären: dass er sich am Ende seiner „Odyssee“ befindet und die Welt jetzt nicht mehr dieselbe ist.

Wenn er seine Geschichte heute, sechs Jahre später, erzählt, lächelt Carl Collins fast ununterbrochen. Bis vor Kurzem war der 38-Jährige noch Informationsarchitekt, also jemand, der Mengen von Information ordnet und aufbereitet. Dass sein Kopf viel arbeitet, merkt man daran, wie er spricht: schnell und mit immer neuen Anläufen. Aber nun zum Anfang der Geschichte.

2012 stößt Collins im Internet auf eine Ausschreibung von Odyssey Works, einem Künstlerkollektiv, das laut Online-Auftritt „eindringliche, lang andauernde Erlebnisse“ gestaltet, für jeweils nur einen Menschen. Die Künstler aus verschiedenen Disziplinen studieren das Leben ihres „Teilnehmers“ und erarbeiten „intime, bedeutungsvolle Performances“, die nicht auf einer Bühne stattfinden, sondern in dessen Leben. Die Wirkung dieser Erlebnisse – oder „Odysseen“ – ist enorm. Viele Teilnehmer wechseln danach den Job, den Wohnort, beenden eine Beziehung oder gehen neue Bindungen ein.

Ziegenmann, Wasserbomben

Collins bewirbt sich aus reiner Neugier. Er füllt einen Fragebogen aus, der viele Stunden in Anspruch nimmt und von Geschmackssachen über Beziehungen bis zu existenziellen Fragen reicht. Was ist dein Lieblingsgeruch? Welches Toilettenpapier kaufst du? Was findest du an einem Liebhaber attraktiv? Was ist deine größte Angst? Dann folgt ein Videointerview. Außerdem unterschreibt er eine Erklärung, dass die Künstler mit seinen Freunden und Verwandten sprechen dürfen, und muss sich ein bestimmtes Wochenende frei halten.

Monate später ist es dann so weit. Collins kocht gerade, als es an der Haustür klingelt. Er öffnet und kann den Mann mit Ziegenmaske kaum wahrnehmen – zu schnell klatscht der ihm eine Torte ins Gesicht und verschwindet. Am Samstagmorgen weckt ihn ein Radiowecker, den er eigentlich nicht besitzt. Es läuft ein Beitrag über Kartografie – seine größte Leidenschaft. Ein Hinweis führt ihn zum Park vor dem New Yorker Rathaus, in dem mehrere Menschen sitzen und Karten von seinem Leben zeichnen. „Es war unglaublich“, sagt er heute, „es steckte einfach so viel Wärme drin.“

Doch bald taucht der Ziegenmann wieder auf und jagt Collins mit Wasserbomben durch Manhattan zum Central Park. Dort muss er wie Sisyphos einen schweren Stein über das Gelände schleppen. Währenddessen kommen Freunde dazu, laufen wortlos ein Stück neben ihm her und verlassen ihn wieder. Beim Abendessen schließlich wird er überwältigt. Man verbindet ihm die Augen und bringt ihn in die Wälder außerhalb der Stadt. Als er irgendwann wieder sehen kann, ist er an einen Baum gefesselt, umgeben von Feuer und wild tanzenden Menschen. „Es ist köstlich, sich daran zu erinnern, aber damals war ich total erschöpft.“ Heute weiß Carl Collins: Genau das hatten die Macher im Sinn.

„Wir wollten, dass Carl sein Carl-Sein – seinen starken Intellekt – vollständig erlebt, dann aber hinter sich lässt, indem wir ihm zuerst ein neues Leben im Körper und dann ein komplett neues Leben geben“, sagt Abraham Burickson, 43, Architekt, Schriftsteller, Professor für Design und einer der Gründer von Odyssey Works. 2001 sinnieren er und sein Freund Matthew Purdon bei einem Strandspaziergang in San Francisco, wie Kunst die stärkste Wirkung haben könnte. Ihre Antwort: indem man das Publikum auf einen Menschen beschränkt, der zugleich Akteur ist. Indem man die Form offen hält: „Wenn du dich davon befreist, dein Stück im Theater aufführen zu müssen, dann kann es auch zwölf Stunden dauern oder 24 Stunden oder drei Monate! Warum sollte die Form im Weg stehen, wenn du etwas zutiefst Bewegendes schaffen willst?“

Entsprechend fing auch Collins’ Odyssee schon lange vor seinem Wochenende an, mit Ziegengeräuschen auf seiner Mailbox, einer neuen Bekanntschaft, die ihn zu einer seltsamen Mutprobe mitnimmt, und einem Buch, das ihm ein Freund gibt und sich manchmal so liest, als würde es von ihm selbst handeln. Alles war subtil genug, damit Collins keinen Verdacht schöpfte.

Seit ihrer Gründung haben Odyssey Works 18 Erlebnisse gestaltet. Acht Mal kam der Teilnehmer aus den eigenen Reihen, ansonsten kostet eine Odyssee um die 35.000 US-Dollar. Finanziert werden die Stücke teils von privaten Auftraggebern, teils von Universitäten oder Organisationen, wie dem BEAT Festival für Performancekunst in Brooklyn, und durch Fördergelder. Der Teilnehmer selbst zahlt in der Regel also nichts. Bewerben kann sich jeder, der bereit ist, sich weit genug zu öffnen und den Fragebogen auszufüllen. Den Kern des Kollektivs bilden zwölf über die USA verteilte Mitglieder, die je nach Bedarf mit bis zu etwa hundert anderen zusammenarbeiten, darunter Schauspieler, Tänzer, Dichter, Musiker, Architekten, Softwareentwickler und Psychologen.

Die gestalterischen Möglichkeiten scheinen unbegrenzt. Matthew Purdon wurde für eine Art Wiedergeburt an einem Strand lebendig beerdigt und brauchte mehr als eine halbe Stunde, um sich freizugraben. Für Laura Espino schrieben die Künstler einen ganzen Roman, angeblich von dem argentinischen Autor Alberto Gerchunoff, jahrzehntealt und bisher unbekannt. Sie ließen das Papier im Labor künstlich altern, verfassten einen Wikipedia-Artikel dazu und mehrere Rezensionen. Die Teilnehmer von Odyssey Works erleben Musik, die für sie komponiert, Tanzaufführungen, die für sie choreografiert und Reisen, die für sie geplant wurden. Und sie treffen dabei Fremde wie Vertraute.

Kunst als Geschenk

Keine Frage, wenn jemand nach der Odyssee sein Leben ändert, ist „das ein guter Maßstab, dass das Erlebnis stark war. Aber vielleicht hat er sich für die Performance entschieden, gerade weil er eine Veränderung brauchte“, sagt Burickson. So wagte beispielsweise Dare Turner nach ihrer Odyssee, ihren sicheren Job aufzugeben, um Kunst zu studieren. Kristina Kulin wiederum stand kurz davor, New York und ihre Beziehung zu verlassen. Ihre Odyssee machte ihr Mut für die Veränderungen. Wenn sie sich die Szenen heute vor Augen führe, löse das immer noch starke Gefühle aus. „Sie geben dir auf eine sehr authentische Weise das Gefühl, dass du jemand Besonderes bist.“

Klar: So viel ungeteilte Aufmerksamkeit wie von Odyssey Works bekommt ein Mensch nicht einmal von einem Therapeuten. Die Künstler tun alles, um sich in ihren Teilnehmer hineinzuversetzen. Sie schauen seine Lieblingsfilme, lesen für ihn wichtige Bücher, besuchen Schlüsselorte und -veranstaltungen, etwa einen Gottesdienst in seiner Kirche, und treffen die Menschen aus seinem Umfeld. Wenn man sich derart intensiv mit jemandem beschäftige, mit dem Ziel ihn zu verstehen, dann sei es schwierig, sich nicht in die Person zu verlieben, sagt Ayden LeRoux. Die 29-jährige Künstlerin lebt in San Diego und leitet das Kollektiv zusammen mit Burickson. Eine (bessere) Therapie sei die Odyssee aber nicht. „Wenn jemand psychische Probleme hat oder gerade trauert, dann ist das nicht das Richtige.“ Die körperliche Intensität bei Collins etwa sollte ihn empfänglicher für die Performance machen, aber was er von seinem Erlebnis mitnehme, so Burickson, sei jedem selbst überlassen.

Die befragten Teilnehmer empfanden ihre Odyssee jedenfalls als etwas Wunderbares und fühlten sich außerordentlich wertgeschätzt. Viele erlangten zudem mehr Klarheit darüber, was ihnen in ihrem Leben wichtig ist. Eine Odyssey-Works-Performance, so scheint es, ist eine unerhörte, schöne Gelegenheit der Selbsterfahrung durch Kunst.

Man könnte sie auch eine liebevolle Kunst nennen. „Echte, tiefe Empathie heißt nicht nur, dass ich verstehe, wie du etwas erlebst“, sagt Burickson, „sondern dass es mir auch etwas bedeutet. Wenn ich empathisch bin, dann ist es mein aufrichtiger Wunsch, dass du ein tolles Erlebnis hast.“ Alles Material, das dabei entsteht, so aufwendig es auch sein mag, ist Requisite, Mittel zum Zweck. Es zählt einzig das Erlebnis. Dies ist ein Gedanke, der auch jenseits der Kunst gerade en vogue ist, etwa wenn der Genuss eines Bechers Kaffee genauso als „Erlebnis“ verkauft wird wie der Besuch in der Sauna oder im Restaurant. Der US-Autor Joseph Pine sieht in einer „Experience Economy“ gar den Nachfolger der Dienstleistungsgesellschaft.

Das Schöne an Odyssey Works ist indessen, dass nichts verkauft wird. Auch entsteht kein Mehrwert für den Kunstbetrieb: Es gibt keinen Applaus, keine Kritiken, keine Preise (allenfalls Artikel wie dieser). Diese Kunst ist also eher ein Geschenk – an einen Menschen, der den Maßstab seines Gelingens selber entwirft. Sie hat ein Leben zum Inhalt und wird selbst Teil von diesem Leben. Darin liegt ihre Bedeutung, nicht nur für denjenigen, der beschenkt wird, sondern mindestens genauso für den Künstler, der schenkt.

Seit einem Jahr arbeiten Odyssey Works an ihrem bisher größten Projekt. Es ist für 2020 geplant und soll erstmals mehrere Teilnehmer haben. Worum geht es? Burickson hält sich bedeckt. „Wenn es ein Erfolg wird, könnte es das letzte Stück sein, an dem ich jemals arbeite.“ Es wäre nicht das erste Mal, wenn er dabei Unterstützung von früheren Teilnehmern bekäme.

Zum Beispiel von Carl Collins. Der erwacht am Sonntagmorgen nach seiner durchtanzten Nacht im Wald in einem Landhaus und verbringt den Vormittag auf einer alten Schreibmaschine schreibend. Danach fährt er ohne Geld und Smartphone per Anhalter zurück nach New York City und landet in jener Raststätte.

Und das hat die Odyssee mit ihm gemacht: „Sie hat die Art und Weise, wie ich die Welt sehe, für immer verändert. Sie erinnert mich daran, dass so viel mehr möglich ist, als wir meistens zulassen.“

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